(Gegenwind 259, April 2010)

Parlament Kiel

Ein Vorschlag für ein neues Wahlrecht für Schleswig-Holstein

Es wird Zeit für mehr Demokratie

Die letzte Landtagswahl in Schleswig-Holstein hat zu geradezu absurden Ergebnissen geführt. Die Zahl der Abgeordneten ist durch Überhang- und Ausgleichsmandate von 69 auf 95 angestiegen. Trotzdem wurden 3 Überhangmandate der CDU nicht mehr durch Ausgleichsmandate ausgeglichen - eine einsame und umstrittene Entscheidung der Landeswahlleiterin. Im Ergebnis entstand dann eine Einstimmenmehrheit von CDU und FDP, die bei den Wahlen gar keine Mehrheit gewonnen haben.

Gegen diese Entscheidung laufen auch noch eine Reihe Klagen. Es kann also durchaus sein, dass das Landesverfassungsgericht diese Zusammensetzung des Parlamentes für ungültig erklärt. Und dann?

Dann käme es mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Neuwahlen mit dem gleichen verrückten Wahlrecht, dass schon jetzt die Unstimmigkeiten produziert hat. Es ist also höchste Zeit, dass endlich Konsequenzen gezogen werden und ein neues Wahlrecht eingeführt wird. Das wäre dann auch die Chance, endlich einmal ein Wahlrecht einzuführen, dass den Bürgerinnen und Bürgern mehr Einfluss auf die Zusammensetzung des Parlamentes gibt.

In dieser Situation haben wir einen Vorschlag für ein neues Wahlsystem für die Landtagswahlen in Schleswig-Holstein erarbeitet Nach diesem Vorschlag werden 44 Direktmandate vergeben, ohne dass Überhangmandate auftreten. Die Bürger haben deutlich mehr Einfluss auf die Auswahl der KandidatInnen vor Ort. Die Verteilung der Direktmandate ist deutlich verbessert und selbst die kleinen Parteien hätten bei dem Wahlergebnis von 2009 die Chance, Direktmandate zu gewinnen.

Die Reduzierung auf dreißig Direktmandate kann nicht befriedigen

Die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hat bereits einen Gesetzentwurf vorgelegt, der gewähr-leisten soll, dass die Zahl der Überhangmandate reduziert wird. Dieser Vorschlag ist aber aus unserer Sicht immer noch unbefriedigend. Denn er würde zwar die Zahl der Überhangmandate reduzieren. Bei dem vorliegenden Wahlergebnis würden aber immer noch 3 Überhangmandate an die CDU fallen, die durch 6 Ausgleichsmandate ausgeglichen werden müssten. Dazu käme dann noch ein weiteres Mandat, um die ungerade Zahl der Sitze herzustellen, so dass der Landtag wieder 79 Abgeordnete hätte. Von diesen 79 wären dann aber nur noch 30 direkt gewählte Abgeordnete - während 49 über die Liste gewählt würden.

Das Zwei-Stimmen-Wahlrecht war aber ursprünglich ja dazu gedacht, dass die Bürger durch direkt gewählte Abgeordnete aus der Region vertreten werden. Dieses Ergebnis sollte dann durch zusätzliche Listenmandate so ausgeglichen werden, dass alle Parteien proportional dem Wahlergebnis vertreten sind. Ursprünglich wurden deshalb in Schleswig-Holstein von 75 Abgeordneten 45 - als 3/5 der Ab-geordneten direkt gewählt. Wenn nun nur noch ein gutes Drittel des Parlaments direkt gewählt wird, dann wird die Intention des Zweistimmen-Wahlrechts ad absurdum geführt. Damit würde auch der Einfluss der Bürgerinnen und Bürger auf die Auswahl der Kandidaten deutlich reduziert.

Ziele einer guten Wahlrechtsreform

Welche Ziele sollte eine gute Wahlrechtsreform realisieren?

Diese 4 Forderungen werden von dem unten vorgeschlagenen Wahlsystem realisiert.

Zusätzlich gewährleistet der Vorschlag, dass die beiden großen Parteien bei der jetzigen Stimmenver-teilung im ganzen Land mit Direktkandidaten vertreten wären. Also anders als zur Zeit wäre die CDU auch in Kiel und Lübeck mit mindestens einem Mandat und die SPD auch in den Landkreisen ver-treten. Auch die kleinen Parteien hätten eine Chance, zumindest in ihren Hochburgen ein Direkt-mandat zu erringen.

Für wichtig halten wir aber auch, dass das vorgeschlagene System gewährleistet, dass in der Regel alle Parteien auch Kandidaten über die Liste ins Parlament bekommen. Dies ist deshalb wünschenswert, weil es sonst für die Parteien schwierig ist, wichtige Fachleute und Nachwuchskräfte, die noch keine langjährige Basisarbeit in einem Wahlkreis hinter sich haben, oder die aus einem Wahlkreis kommen, in dem die Partei schwach ist, für das Parlament zu gewinnen.

Unser Vorschlag

Wir schlagen vor, weniger Direktwahlkreise zu bilden. In jedem Wahlkreis sollen dann aber 4 Abgeordnete direkt gewählt werden. Ein solches Wahlrecht mit mehreren gewählten Direktkandidaten pro Wahlkreis gibt es z. B. in Irland und in Norwegen.

Es werden 11 Wahlkreise (z. B. analog zur Bundestagswahl) gebildet. In jedem Wahlkreis werden 4 Direktkandidaten gewählt. Insgesamt gibt es so 44 direkt gewählte Abgeordnete und 25 Abgeordnete über die Liste.

Listenwahl:

Die Zahl der Mandate einer Partei wird aufgrund der Zweitstimmen nach dem Saint-Laguë-Verfahren berechnet. Stehen der Partei mehr Sitze zu, als sie Direktmandate gewinnt, so werden diese durch Kandidaten von der Landesliste in üblicher Weise ergänzt.

Die Direktwahl:

In jedem Wahlkreis werden 4 Direktkandidaten gewählt. Jede Wählerin und jeder Wähler bekommt 3 Erststimmen. Jede Partei soll für jeden Wahlkreis mindestens 4 Kandidatinnen oder Kandidaten vor-schlagen. Nun können die Wahlberechtigten drei der vorgeschlagenen Kandidatinnen und Kandidaten der Parteien direkt ankreuzen. Es ist möglich, die drei Stimmen auf die Kandidaten von unterschied-lichen Parteien zu verteilen (Panaschieren). Es ist auch möglich, zwei oder alle drei Stimmen auf einen Kandidaten zu konzentrieren (Kumulieren). Die Vergabe der Sitze erfolgt wieder aufgrund der Zahl der Erststimmen für die kandidierenden Parteien nach dem modifizierten Sainte-Laguë-Verfahren. Die Auswahl der Kandidatinnen und Kandidaten einer Partei erfolgt dann nach der Stimmenzahl.

Überhangmandate:

Sollte eine Partei mehr Direktmandate bekommen, als ihr über die Zweitstimme zustehen, so werden diese durch Ausgleichsmandate ausgeglichen. Ergibt sich dabei eine gerade Zahl der Mandate, dann wird ein zusätzliches Mandat vergeben. Allerdings wurde das Modell so gewählt, dass bei allen betrachteten Wahlen keine Überhangmandate entstanden wären.

Variante Listenwahl mit offenen Listen:

Will man den Bürgerinnen und Bürgern einen noch größeren Einfluß auf die Zusammensetzung des Landesparlaments zugestehen, so könnte dies durch eine Öffnung der Parteilisten geschehen: Die Bürgerinnen und Bürger können dabei ihre Listenstimme gezielt einer bestimmten Kandidatin oder einem bestimmten Kandidaten geben. Ins Parlament würden dann die Listenkandidatinnen und -kandidaten mit den meisten Stimmen einziehen.

Ergebnisse des Verfahrens

Bislang waren in Schleswig-Holstein alle direkt gewählten Abgeordneten jeweils Mitglied einer der beiden großen Parteien. In Zukunft könnte sich das ändern. In dem einen oder anderen Wahlkreis könnte nach dem vorgeschlagenen Verfahren der 4. Platz, manchmal sogar der 3. Platz, an eine andere Partei fallen. Das hätte nicht nur für die kleinen Parteien den Vorteil, dass sie auch direkt ge-wählt werden können. Auch für die beiden großen Parteien wäre das sinnvoll. Denn zur Zeit ist die SPD nur noch in Kiel und Lübeck direkt vertreten. Im ganzen restlichen Schleswig-Holstein gibt es keinen einzigen direkt gewählten Wahlkreisvertreter der SPD. Und in Kiel und Lübeck gibt es um-gekehrt überhaupt keinen Kandidaten der CDU mehr, weil ja die Liste nicht mehr zum Zuge kam.

Nach Vergabe der Direktmandate bleiben dann noch 25 Sitze für den Landtag zu vergeben. Diese Sitze würden an Listenkandidaten so verteilt, dass alle Parteien entsprechend ihren Stimmenanteilen vertreten wären. In der folgenden Tabelle wird für die Parteien jeweils angegeben, wie viele Sitze sie nach dem neuen Verfahren als Direktmandate und als Listenmandate bekommen können.

Modellrechnung mit 11 Wahlkreisen und jeweils 4 Direktmandaten

  CDU SPD FDP Grüne SSW LINKE
LTW 2005 * 22 + 7 22 + 6 0 + 5 0 + 4 0 + 3 -
LTW 2009 * 20 + 3 13 + 6 9 + 2 1 + 8 1 + 2 0 + 4

* Angabe jeweils: Anzahl Direktmandate + Anzahl Listenmandate

Die dargestellte Überschlagrechnung basiert auf den Wahlkreisen zur Bundestagswahl. Nach dieser Rechnung wären also 2009 in allen Wahlkreisen der 4. Sitz jeweils (teilweise auch der dritte) an eine kleine Partei gefallen - in Kiel an die Grünen, in Flensburg-Schleswig an den SSW, und in allen anderen Wahlkreisen an die FDP. Aber auch für die großen Parteien hätte sich Gravierendes ver-ändert. Sie wären nämlich in allen Kreisen mit einem Direktmandat vertreten - die CDU sogar überall - mit Ausnahme von Kiel und Lübeck, mit 2 Direktmandaten.

Es wird Zeit für mehr Demokratie!

Der dargestellte Vorschlag wurde auf unsere Initiative hin von dem Verein „Mehr Demokratie e.V.” in einer Stellungnahme in den Innen- und Rechtsausschuss eingebracht. Er entspricht nicht nur den vier oben genannten Zielen für eine gute Wahlrechtsreform. Er gibt den Bürgerinnen auch viel mehr als bisher die Möglichkeit, auf die Wahl ihrer Direktkandidaten vor Ort Einfluss zu nehmen. So kann man alle drei Stimmen auf eine KandidatIn konzentrieren, weil man möchte, dass diese oder dieser un-bedingt in den Landtag kommen soll. So könnten auch KandidatInnen, die von Ihrer Partei nicht auf die ersten Plätze gesetzt werden, vor Ort gewählt werden. Erfahrungen aus anderen Bundesländern mit einer Komponente der Persönlichkeitswahl wie zum Beispiel in Bayern oder auch die Erfahrungen bei Kommunalwahlen mit Panaschieren und Kumulieren zeigen, dass diese Möglichkeiten von vielen BürgerInnen aktiv genutzt werden. Teilweise entstehen so auch lokale Kampagnen für einzelne populäre KandidatInnen, die Menschen vor Ort zusätzlich für die Wahl mobilisieren oder sogar be-geistern können.

Diese Erfahrungen zeigen, dass „Mehr Demokratie” von den Menschen gewünscht und angenommen wird. Deshalb wird es endlich Zeit für mehr Demokratie auch in Schleswig-Holstein.

Karl-Martin Hentschel

ehem. Fraktionsvorsitzender von Bündnis 90 / Die Grünen im Landtag (bis 2009)

Rolf Sörensen

Landesvorsitzende des Vereins „Mehr Demokratie e. V. - Landesverband Schleswig-Holstein”

Anmerkungen:
  1. Das Sainte-Laguë-System wird vom Bundeswahlleiter empfohlen und wird bei der Bundestagswahl und einigen Landtagen angewandt. Dieses System führt zu einer mathematisch optimalen Verteilung der Mandate auf dei Parteien, was bei dem bisher in Schleswig-Holstein angewandten d'Hondt-System nicht der Fall ist. Fast alle Bundesländer haben deshalb d'Hondt mittlerweile abgeschafft.
  2. So ein Fall lässt sich nur theoretisch konstruieren, wenn für eine Partei die Erststimmenergebnisse sehr stark von den Zweitstimmenergebnissen abweichen. Für den besonderen Fall, dass ein Kandidat ein Direktmandat gewinnt, obwohl die Partei die 5%-Quote nicht erreicht, sollte das Gesetz vorsehen, dass das Mandat nicht ausgeglichen wird.
  3. Es handelt sich um grobe Schätzungen, um einen Eindruck zu bekommen. Für die Abschätzung der Ergebnisse der Landtagswahl 2009 wurden überwiegend einfach die Ergebnisse der Bundestagswahl 2009 genommen. Nur für den Norden wurden die Ergebnisse der Landtagswahl auf die Wahlkreise der Bundestagswahl umgerechnet, weil sonst der SSW rausgefallen wäre. Um die genauen Ergebnisse zu bekommen, müsste eine Rechnung auf Gemeindeebene durchgeführt werden. Das überstiegt unsere Kapazitäten und sollte ggf. vom Ministerium durchgeführt werden.
    Die Gesamtzahl der Sitze ändert sich durch die Anwendung des Sainte-Laguë-Verfahren anstelle von des d'Hondt-Verfahren für 2005 so, dass die FDP und der SSW je einen Sitz mehr bekommen hätten zu Lasten der beiden großen Parteien. Dagegen liefert das Sainte-Laguë-Verfahren für 2009 die gleiche Sitzverteilung wie das d'Hondt-Verfahren.
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