(Gegenwind 289, Oktober 2012)


Larissa Bender (Hg.): Syrien. Der schwierige Weg in die Freiheit.
Bonn 2012, Dietz Nachf. Verlag,
201 Seiten, 14,90 Euro

Buchbesprechung

Aktuelles aus Syrien

Die Situation in Syrien ist unübersichtlich. Die Medien konzentrieren sich auf die Politik von Präsident Assad, der seine Diktatur verteidigt, angeblich rund 20.000 Demonstranten ermordet hat und alle Aufständischen „Terroristen” nennt. Die Türkei (und die NATO) sowie die Golfstaaten unterstützen die Aufständischen, wobei die Türkei anfangs großzügig Flüchtlinge aufnahmen, um sie später mit einem fingierten Bombenanschlag kollektiv ebenfalls des „Terrorismus” zu verdächtigen und die Grenzen mit dieser Begründung zu schließen.

In diesem Buch sammelt die Syrien-erfahrene Autorin Beträge von Syrerinnen und Syrern sowie anderen Syrien-Kennern, die den Bürgerkrieg jeweils aus der eigenen Perspektive beschreiben und so Puzzleteil für Puzzleteil zusammen fügen.

Zunächst beschreiben Omar Alasaad und Kirstin Helberg die politischen und wirtschaftlichen Hintergründe der Revolution und die unvermeidliche Spaltung der Opposition, die sich unter den Bedingungen der Diktatur niemals im Lande einheitlich formieren konnte. Hier wird auch indirekt die Position Israels deutlich, dessen Regierung sich mit Assad arrangiert hatte und sich auf die relative Ruhe an der Waffenstillstandslinie verlassen konnte.

Rami Nakhla beschreibt die „virtuelle Welt”, die Opposition im Internet. Hier wurde er als Oppositioneller aktiv, wagte sich immer weiter vor, bis das Regime auf ihn aufmerksam wurde und das Pseudonym lüftete. Er musste nach Beirut fliehen, ist dort aber im Netz weiterhin aktiv.

In den nächsten Kapitels geht es um die Aktionen von Frauen und Kinder. Gerade Kinder wachsen heute in einer Umwelt auf, in denen ihnen der „Präsident” nur noch als Befehlshaber der Flugzeuge und Kanonen bekannt wird. Frauen dagegen konnten lange Zeit davon profitieren, dass sie im laizistischen Syrien relative Freiheiten hatten, allerdings vom männlich dominierten Geheimdienst immer unterschätzt wurden.

Um die Position kurdischer Gruppierungen geht es im Beitrag von Ahmad Hissou. Während die PKK (bzw. ihre syrische Organisation) sich dem syrischen Nationalrat angeschlossen hat, haben andere Parteien einen eigenen Kurdischen Nationalrat gegründet. Sie profitieren absurderweise davon, dass Präsident Assad (der Vater des jetzigen Präsidenten) einst große Teile der kurdischen Bevölkerung Syriens ausgebürgert und zu Staatenlosen (und Rechtlosen) im eigenen Land gemacht hat. Das führt aber dazu, dass alle anderen Gruppen im Land sich jetzt Gedanken um die Einheit und damit um eine Minderheitenpolitik machen müssen. Grundsätzlich stellt der Kurdische Nationalrat die Einheit des Landes nicht in Frage, stellt aber Bedingungen.

Friedlich oder bewaffnet? Yassin Al Haj Saleh zeigt in seinem Beitrag, dass es keine einfache Antwort auf diese Frage gibt. Natürlich ist der friedliche Protest, von der syrischen Polizei und Armee zusammengeschossen, sympathischer für die Wohnzimmer Westeuropas. Andererseits haben Deserteure der Armee, die diese Massaker nicht mitmachen wollen, Waffen und eine Ausbildung. Außerdem gibt es bewaffnete Gruppen von außen, die in ein Vakuum hineinstoßen können und es deshalb auch machen.

In weiteren Kapitels geht es um die Gruppe der Alawiten, denen der Präsident und viele führende Vertreter des Regimes angehören. Die Alawiten fürchten beim Sturz der Regierung Schlimmes, obwohl die meisten arm und marginalisiert werden - aber je länger der Brügerkrieg dauert, desto mehr ziehen sich die bewaffneten Gruppen auf die eigenen Familienverbände zurück und werden so zu Sunniten oder anderen Gruppierungen, auch wenn sie anfangs für die Demokratie oder auch nur die Freiheit von Angst eintreten.

Angst ist das Stichwort für Omar Kaddour: Die Angst hat die Seite gewechselt, so seine These. Hatten jahrzehntelang alle Bürgerinnen und Bürger Syriens Angst vor dem allgegenwärtigen Spitzelwesen der Diktatur, den unberechenbaren Verhaftungen, der Folter, der Willkür der Justiz, so sind es heute die Repräsentanten des Regimes, die Angst vor dem haben, was „danach” kommen könnte. Viele, die Zeit Ihres Lebens nie etwas mit Demokratie zu tun haben, fliehen heute in ein Nachbarland und werden über Nacht sicherheitshalber zu „Demokraten”. Viele Jugendliche gehen heute auf die Straße, ohne Angst vor den Scharfschützen der Armee - denn so viele wurden vom Bomben zu Hause im Schlaf getroffen, dass die Teilnahme an Demonstrationen inzwischen das Risiko nicht wesentlich erhöht.

Die Position der Christen beleuchtet Michal Shammas. Sie waren als Minderheit in der Diktatur einigermaßen geschützt, wurden „nur” als Oppositionelle, nicht aber als Christen verfolgt. Am Nachbarland Irak sehen sie seit Jahren, was der Zusammenbruch der Diktatur für eine Minderheit bedeuten kann, und unterstützen deshalb vielfach Präsident Assad. Es gibt aber auch prominente Christen, die führende Positionen im Nationalrat bekleiden.

Die „Zivilgesellschaft” ist ds Thema von Friedrike Stolleis. Jahrelang gab es nur „offizielle Nicht-Regierungs-Organisationen”, zum Beispiel Stiftungen der Gattin des Präsidenten, ähnlich wie früher in Tunesien oder Ägypten oder bis heute in Aserbaidschan. Echt Nicht-Regierungs-Organisationen riskierten immer Verhaftung und Folter. Jetzt, wo in vielen Teilen des Landes die staatliche Ordnung zusammengebrochen ist, entstehen Selbsthilfegruppen, deren Unterstützung durch Internationale Organisationen bisher meistens daran scheitert, dass sie unter dem Bomben der Regierung keine geordnete Buchführung zur Abrechnung von Zuschüssen einrichten können.

Carsten Wieland beschreibt die syrische Außenpolitik der letzten 50 Jahre. Syrien hat es immer geschafft, aus der Gegnerschaft zu Israel, aus dem Einsatz für den Panarabismus, aus dem Kampf gegen die Muslimbrüder bares Geld zu machen. Die Außenpolitik bestand oft daran, die Innenpolitik und Kriegs- oder Friedenspolitik in Unterstützung von Seiten der Ölstaaten Arabiens umzusetzen. Die Außenpolitik wurde über lange Zeit genutzt als „Exportgut”. Jetzt zahlen nur noch der Iran, um den letzten Verbündeten nicht zu verlieren, und Russland, das seinen Mittelmeer-Hafen behalten will.

Salam Kawakibi beschreibt die Theorien von der „ausländischen Verschwörung”, die nach Meinung und Bekanntgabe der syrischen Regierung hinter jeder oppositionellen Regung steckte und steckt. So behauptet Assad und glaubt es teils vielleicht wirklich, dass eingeschleuste Terroristen, bezahlt von Israel, den USA, der Türkei und den Golfstaaten für die gegenwärtigen Kämpfe verantwortlich sind. Erschwerend bei der Widerlegung kommt dazu, dass Israel, die USA, die Türkei und die Golfstaaten tatsächlich große Interessen haben und aktiv verfolgen. Das erklärt nicht den Aufstand, gehört aber dazu.

Und wie geht es weiter? Die Assad-Regierung hat die Repression traditionell als einziges Rezept, mit der eigenen Bevölkerung fertig zu werden. Diese Tradition erklärt Norbert Mattes in seinem Beitrag. Dazu wagt Volker Perthes einen Ausblick? Wie wird es Weihnachten 2012 und im Sommer 2013 im Land aussehen?

Die einzelnen Beiträge wurden von der Herausgeberin Larissa Bender (quantara.de) nicht auf Linie gebracht, sondern vertreten alle ihre eigene Position. So wird eine gute Übersicht nicht über die Situation, sondern über verschiedene Sichtweisen zu Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft Syriens hergestellt und kräftig geholfen, die täglichen Nachrichten zu verstehen und zu bewerten.

Reinhard Pohl

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