(Gegenwind 407, August 2022)

Milli Schroeder und Irina Wibmer von der Poliklinik Veddel im Süden Hamburgs

Poliklinik Veddel:

Soziale Gesundheit in Zeiten von Corona

Interview mit Milli Schroeder und Irina Wibmer von der Poliklinik Veddel im Süden Hamburgs

Gegenwind:

Wie seid ihr zur Poliklinik gekommen?

Milli Schroeder:

Ich bin Gründungsmitglied, seit dem Start der Planung 2012 dabei. Viele der Gründer*innen waren im Medibüro Hamburg aktiv, das seit 1994 medizinische Versorgung für unversicherte Menschen organisiert. Die Arbeit im Medibüro hat zur Beschäftigung mit unserem Gesundheitssystem und der Ungleichverteilung von Gesundheitschancen geführt. Daraus entstand die Idee, Gesundheitsversorgung größer aufzuziehen, um an den ungerechten gesellschaftlichen Verhältnissen etwas ändern zu können.

Irina Wibmer:

Ich bin vor einem Jahr, Ende April 2021, dazugekommen. Als ich noch in der Suchthilfe tätig war, hatte ich aber schon einige Berührungspunkte mit der Poliklinik. In meinem ersten Studium, der Pflegewissenschaft, habe ich spannende präventive Inhalte kennengelernt, die im deutschsprachigen Raum noch kaum umgesetzt werden. In der Poliklinik fand ich davon zum ersten Mal einiges wieder und bin seither absolut überzeugt von dem erweiterten Gesundheitsverständnis.

Gegenwind:

Was macht ihr innerhalb der Poliklinik, könnt ihr kurz etwas zu euch sagen?

Irina Wibmer:

Ich bin nichtärztliche Mitarbeiterin in der Poliklinik und beende gerade mein Studium in Soziale Arbeit. Vorher habe ich in der Suchthilfe gearbeitet.

Milli Schroeder:

In der Poliklinik Veddel mache ich Verwaltung und die Projektkoordination. Ich bin 41 Jahre alt und Politikwissenschaftlerin.

Gegenwind:

Wie ist die Poliklinik Veddel entstanden?

Milli Schroeder:

Im Medibüro Hamburg haben wir uns viel diesen Fragen beschäftigt: Warum sind manche Menschen kränker als andere? Wie wirken sich die Ausschlüsse von Gesundheitsversorgung wiederum auf den Gesundheitszustand aus? Was gehört alles zu einer guten Gesundheitsversorgung dazu? Wie können wir an der aktuellen Ungleichverteilung von Gesundheit etwas ändern?

Ein Ergebnis dieser längeren Recherche- und Diskussionsprozesse war, die sozialen Determinanten in den Blick zu nehmen: Wohnen, Arbeiten, Bildung, Diskriminierungserfahrungen, Einkommen, kurz - die Lebensumstände. Diese sozialen Determinanten sind ein wesentlicher Faktor für den Gesundheitszustand; daraus folgt: Wenn wir etwas an der gesundheitlichen Ungleichverteilung verändern wollen, müssen wir über die Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums sprechen und hier ansetzen.

Medizinische Versorgung ist im Gesundheitsbereich sehr wichtig, allerdings reicht sie für eine gute Versorgung nicht aus, weil die Problemlagen der Menschen sich nicht auf den medizinischen Bereich begrenzen lassen. Daher braucht man für eine gute Versorgung ein interdisziplinäres Team, das eng unter einem Dach zusammenarbeitet.

Da sich unsere Gruppe zu Beginn aus Leuten aus dem Medibüro und aus anderen Gruppen zusammensetzte, konnten wir schon auf Erfahrungen mit der Frage zurückgreifen: Wie kann man gesellschaftliche Veränderungen durchsetzen? Anders als im Medibüro bietet hier die Arbeit in und mit einem Stadtteil eine andere Grundlage für gemeinsame Politisierungs- und Organisierungsprozesse.

Gegenwind:

Warum auf der Veddel?

Milli Schroeder:

Wir hatten zunächst über andere Stadtteile nachgedacht: Billstedt, Wilhelmsburg und Rotenburgsort, wurden dann aber von Pro Quartier, dem damaligen Quartiersmanagement der SAGA auf der Veddel, angefragt, ob wir uns unser Stadtteilgesundheitszentrum nicht auf der Veddel vorstellen könnten. Es bestand eine akute hausärztliche Unterversorgung, es gab nur noch eine Allgemeinärztin auf der Veddel. Wir haben daraufhin viele Institutionen auf der Veddel besucht, unser Vorhaben vorgestellt und die Bedarfe abgefragt. Der große Zuspruch führte zu der Entscheidung, die Poliklinik auf der Veddel aufzumachen. Die Menschen sind hier früher chronisch krank.

Gegenwind:

Ihr lehnt die Ökonomisierung des ambulanten Sektors ab - was heißt das?

Milli Schroeder:

Wenn sich Gesundheitsversorgung wie jetzt stark an ökonomischen Gesichtspunkten orientiert, bestehen viele Anreize für eine Fehl-, Über- und Unterversorgung. Beispiele für eine Fehlversorgung sind etwa, dass jemand eine neue Hüfte oder Knie bekommt, ohne das wirklich zu brauchen.

Bei Überversorgung denke ich daran, dass es teilweise zu viele Untersuchungen gibt - insbesondere kostenintensive gerätebasierte Untersuchungen wie MRT.

Unterversorgung bedeutet, dass es zu wenig Versorgung passiert, etwa für Menschen ohne Versicherung oder für Patient*innen mit Sprachbarrieren, weil ihre Behandlung zeitaufwendiger und damit weniger lukrativ ist.

Irina Wibmer:

Wir brauchen eine Versorgung, die sich an den tatsächlichen Bedarfen ausrichtet. Dafür muss sich die Gesundheitsberichterstattung deutlich verbessern.

Wir starten 2021 mit einem partizipativen Forschungsprojekt, in dem wir gesundheitliche Basisdaten erheben werden. Anhand dieser Daten können Präventionsangebote entwickelt werden, die an den tatsächlichen Problemlagen ansetzen. Unser Ziel ist es, diese Befragung in regelmäßigen Abständen zu wiederholen, um längerfristige Aussagen über die Entwicklung des allgemeinen Gesundheitszustandes im Viertel machen zu können.

Gegenwind:

Tauscht ihr euch viel mit den Initiativen aus anderen Städten im Poliklinik-Verbund aus?

Milli Schroeder:

Ja, es gibt einen gemeinsamen Planungskreis, der sich monatlich trifft, darüber hinaus gibt es bei Bedarf einen Fachaustausch. Zur Bekämpfung der Corona-Pandemie haben wir gemeinsam eine bessere Versorgung gefordert.

Gegenwind:

Hat die Corona-Pandemie Probleme verschärft?

Irina Wibmer:

Auf jeden Fall. Mittlerweile ist vielfach wissenschaftlich belegt worden, was wir auf der Veddel als unterprivilegiertem Stadtteil erleben: Die Covid-19-Pandemie verstärkt die Belastungen auf vielen Ebenen: die beengten Wohnverhältnisse, die Überlastung durch Homeschooling - insbesondere, wenn man das Gefühl hat, seine Kinder gar nicht ausreichend anleiten zu können -, wenig Homeoffice-Möglichkeiten, Arbeitsplatzverlust - dies trifft besonders Leute in prekären Beschäftigungsverhältnissen ohne Recht auf Transferleistungen -, kein Anrecht auf Kurzarbeit bei unangemeldeten, inoffiziellen Arbeitsverhältnissen, die es hier viel gibt.

Hinzu kommt, dass die medizinische Versorgungsqualität nicht nur im stationären, sondern eben auch im ambulanten Sektor enorm unter dem Management der Pandemie leidet: Wir sind für die ganz normale hausärztliche Versorgung in einem Stadtteil zuständig, in dem die Leute ohnehin überdurchschnittlich jung schon überdurchschnittlich krank sind. Und: Wir sind die einzige hausärztliche Praxis, mit zwei Kassensitzen, für die 4.700 Leute auf der Veddel. Da die hausärztlichen Praxen jetzt auch die Ansprechpartner*innen für alle Corona bezogenen Fragen und Aufgaben sind, kommen täglich 30, 40, 50 PCR-Tests, Schnelltests, Nachfragen zu den Befunden und zu Symptomen, Information der positiv getesteten Patient*innen und so weiter hinzu. Wir arbeiten im Akkord, machen unglaublich viele Überstunden, versuchen nach Möglichkeit, Personal aufzustocken und sind faktisch trotzdem nicht mehr telefonisch erreichbar, was dazu führt, dass noch mehr Leute vorbeikommen, um ihr Anliegen direkt zu besprechen. Wir können sehr viel weniger Termine zur regulären Versorgung anbieten, weil unentwegt das Telefon klingelt und gleichzeitig vor der Tür eine Schlange von mindestens 30 kranken Menschen in der Kälte steht. Noch ist nicht absehbar, wie stark sich dieses schlechtere Versorgungsangebot auf den Gesundheitszustand etwa von chronisch kranken Menschen auswirkt.

Aus unserer Sicht ist es ein enormer Fehler, die Covid-19 bezogenen Aufgaben wie PCR-Testung, Aufklärung und Impfung in die hausärztliche Versorgungsstruktur zu verlegen. Dies trifft erneut unterprivilegierte Stadtteile härter als andere, weil hier angesichts der kaum vorhandenen Privatpatient*innen ohnehin weniger niedergelassene Praxen sind, die jetzt noch weniger Kapazitäten haben, weil sie die Aufgaben einfach nicht bewältigen können.

Gegenwind:

Aber ihr habt es geschafft, in der Pandemie politische Forderungen zu stellen: mehr Impfungen in armen Stadtteilen. Hat doch gut geklappt?

Milli Schroeder:

Wir sind relativ erfolgreich in dem, was wir machen - weil wir es einfach machen. Aber in unseren Forderungen sind wir nicht so erfolgreich, auch wenn sie vielfach aufgenommen wurden: Angesichts der hohen Inzidenzen auf der Veddel haben wir uns im April an die Sozialbehörde gewandt und vorgeschlagen, gemeinsam eine Impfoffensive für die Veddel zu starten. Wir haben die Aufnahme von Menschen, die in unterprivilegierten Stadtteilen wohnen, in die Impf-Priorisierung gefordert. Wir wollten, dass die Sozialbehörde mit uns eine Impfstrategie entwickelt, um die Leute auf der Veddel, die aufgrund ihrer Lebensumstände besonders von der Pandemie betroffen sind, durch eine frühzeitige Impfung besser zu schützen. Die Sozialbehörde hat geantwortet: Na gut, ihr könnt eine der 10 Schwerpunktpraxen werden und bekommt 100 Impfdosen mehr pro Woche. Wir waren auch im Frühjahr schon überlastet, aber da wir auf der Veddel die einzige hausärztliche Praxis sind, haben wir entschieden, dass unsere Priorität auf möglichst vielen Impfungen für den Stadtteil liegt. Kurz: Wenn es niemand sonst macht - also die Stadt ihrer Verantwortung nicht nachkommt -, bauen wir jetzt ein Stadtteil-Impfzentrum auf. Da die normale medizinische Versorgung weiterhin laufen musste, haben wir zusätzliche Impfer*innen, Leute für die Anmeldung und Dolmetscher*innen gesucht und alles organisiert, was man sonst noch braucht. Dass ist ein riesiger zusätzlicher Aufwand in personeller und finanzieller Hinsicht. Viel ist ehrenamtlich gelaufen. Natürlich werden die Impfungen vergütet, aber eben erst ein halbes Jahr später. Das ist keine Besonderheit durch Corona, sondern der normale Vergütungsrhythmus, der es in dieser Situation nicht einfacher macht, den zusätzlichen Bedarf kurzfristig zu decken.

Irina Wibmer:

Uns war es wichtig, das Impfen zusammen mit Leuten aus dem Stadtteil zu machen und Dolmetscher*innen aus dem Viertel zu gewinnen. Einerseits, um überhaupt umfassend über die Impfung aufklären zu können, andererseits aber auch, um die Akzeptanz im Stadtteil zu vergrößern und die Verbreitung der Informationen zu gewährleisten. Unsere Impfkampagne und das Stadtteil-Impfzentrum waren erfolgreich. Die Leute haben sich gut aufgehoben gefühlt bei uns, weil es ein nachbarschaftlicher Ort war. Aber die finale Zusage der Stadt, dass sie die Kosten für die Dolmetscher*innen übernehmen, die ist jetzt erst nach neun Monaten gekommen. Wir haben es gemacht, weil wir es notwendig fanden, aber eigentlich hätte es eine andere Strategie des städtischen Coronamanagements gebraucht.

Milli Schroeder:

Es war auch eine Überforderung unserer Struktur, da wir viel unbezahltes Zusatzengagement reingesteckt haben. Dass merken wir jetzt nach 20 Monaten Pandemie: Es reicht. Wir sind alle am Limit. Und gleichzeitig ist es fast schon absurd, dass ich es sage, weil wir nächste Woche wieder eine Impfaktionswoche durchführen. Das bedeutet dann wieder total viel zusätzliches unbezahltes Engagement. Als Mitarbeiter*innen dieses Stadtteilgesundheitszentrums wissen wir aber, dass das einzige Mittel, was wir hier und jetzt gegen die aktuellen Wellen machen können, das Impfen ist. Und zwar aus dem Druck heraus, dass wir die einzigen sind, die es hier tun.

Gegenwind:

Es gibt bei euch neben Ehrenamtlichen auch Beschäftigte, die über ihre Arbeitszeit hinaus noch ehrenamtlich tätig sind?

Irina Wibmer:

Ja, auf jeden Fall. Ohne dieses ehrenamtliche Engagement wäre ganz vieles bei uns nicht entstanden. Der Arbeitsalltag in meiner Lohnarbeit ist in Zeiten der Pandemie super anstrengend. Gleichzeitig ist das Sprechen mit den Menschen im Stadtteil, was im Rahmen des Corona-Infostandes ehrenamtlich passiert, unfassbar wichtig. So können wir die Menschen erreichen und sie erfahren dadurch, welche Angebote wir gerade haben und wohin sie mit welchem Anliegen kommen können. Wir können dort auch in Ruhe über inhaltliche Fragen sprechen und entlasten so die Arbeit in der Praxis.

Wir nichtärztliche Mitarbeiter*innen haben unterschiedliche Aufgaben in der Praxis. Eine davon ist der Erstkontakt zu den Patient*innen oder Klient*innen am Empfang. Dabei entscheidet sich dann, wohin die Person gehen muss: in den Wartebereich der allgemeinmedizinischen Praxis, in den Wartebereich der Infektsprechstunde (alle mit potenziellen Covid-Symptomen), zur Gesundheits- und Sozialberatung, zur psychologischen Beratung oder den Community Health Nurses. Häufig beansprucht das alleinige Herausfinden der Bedürfnisse aufgrund von unterschiedlichen Faktoren, wie beispielsweise der Sprache, schon einige Minuten. Dazu kommt, dass viele Menschen nicht direkt zu einem der genannten Orte weitergeschickt werden können, sondern Impftermine oder inhaltliche Informationen zur Impfung haben wollen, ihre Rezepte abholen wollen oder nach Laborbefunden fragen. All das bedarf Zeit und Ruhe. Um vor allem Ruhe zu bewahren, müssten wir allerdings die Augen schließen, um nicht die endlos lange Schlange von Menschen zu sehen, die vor der Poliklinik wartet. Viele warten also sehr lange, bis sie überhaupt mit uns am Empfang sprechen können. Wir bekommen viele Rückmeldungen, wie: „Ich bin hier, weil es mir nicht gut geht und stehe schon so lange Zeit in der Schlange...“ Oder: „Ich versuche schon seit zwei Tagen telefonisch durchzukommen, doch konnte euch nicht erreichen.“ Sich die Verzweiflung der Menschen anzuhören, ist nicht schön, vor allem, weil wir wissen, dass wir schon alles in unserer Hand Liegende tun und es trotzdem nicht reicht.

Gegenwind:

Das ehrenamtliche Engagement aus eurer Gruppe ist nach wie vor wichtig?

Milli Schroeder:

Ja. Wir verstehen uns als Kollektivbetrieb. Es gibt Leute, die hier ihre Lohnarbeit haben, es gibt aber auch Leute, die hier nicht angestellt sind und trotzdem zum Kollektiv gehören.

Wir sind als Gruppe schon 2012 gestartet, haben mit der Planung begonnen, 2017 haben wir aufgemacht. Es gab fünf Jahre Vorlauf. Am Anfang konnten die meisten Leute hier sowieso nicht angestellt arbeiten, weil es kaum bezahlte Stellen gab. Daher war es die Normalsituation, dass Kollektivmitglieder eben nicht hier Lohnarbeiten, sondern irgendwo anders. Mittlerweile hat sich die Situation total gedreht. Viele Leute aus unserer Gruppe arbeiten mittlerweile hier.

Die Poliklinik Veddel besteht organisatorisch aus drei Einheiten: Erstens aus der allgemeinärztlichen Praxis, zweitens aus der Hebammenpraxis und drittens aus dem Verein für Stadtteilgesundheit und Verhältnisprävention e.V.

Der Verein versucht Fördermittel einzuwerben, auch Spenden oder Projektzuwendungen. Deswegen schreiben wir andauernd Anträge.

Gegenwind:

Wenn ihr jedes Jahr neu Anträge stellt - da geht vermutlich viel Arbeitskraft rein?

Milli Schroeder:

Ja, auf jeden Fall!

Gegenwind:

Welche Bereiche gibt es?

Irina Wibmer:

Die Gesundheits- und Sozialberatung, die psychologische Beratung und das Community Health Nursing Project, also Pflege, dies drei Bereiche bilden zusammen mit der Hausarztpraxis, und der Hebammenpraxis die Primärversorgung. Dann gibt es noch den Bereich Gemeinwesenarbeit, in dem arbeitet zurzeit eine Kollegin. Die Gemeinwesenarbeiterin bildet eine zusätzliche Schnittstelle zwischen der Primärversorgung und dem Stadtteil. Sie hat eine andere Perspektive, weil sie nicht in der Einzelfallversorgung steckt, sondern schwerpunktmäßig die Prozesse im Stadtteil verfolgt und mitgestaltet. Sie hat auch einen Blick auf Prävention und Gesundheitsförderung. Als Leiterin der lokalen Vernetzungsstelle Prävention hat sie die Aufgabe, die Angebote, die es im Stadtteil schon gibt, bekannt zu machen und neue zu entwickeln. Außerdem verwaltet sie einen Mikrofonds mit 10.000 Euro, über den kleinere Präventionsangebote finanziert werden können. Die Stelle und der Mikrofonds werden durch die Sozialbehörde und die Krankenkassen finanziert. Leider gibt es keine Mittel, um eine langfristige Präventionsstrategie aufzulegen. Nach unserem Verständnis muss Gesundheitsförderung langfristig stattfinden. Die gesellschaftlichen Verhältnisse und die daraus resultierenden Lebensbedingungen müssen im Zentrum einer nachhaltigen Präventionsstrategie stehen: Wie können wir ansetzen, um die Lebensbedingungen zu verbessern? Was braucht man strukturell, damit die Menschen hier gesünder leben können? Denn die Frage von Michael Marmot gilt noch immer: Warum die Menschen behandeln und sie dann wieder in die Verhältnisse zurückschicken, die sie krank machen? Für diesen Ansatz fehlt derzeit der politische Wille.

Gegenwind:

Verhältnisprävention verstanden als Besserung der gesellschaftlichen Verhältnisse?

Milli Schroeder:

Genau, ja. Dass müsste zusammen gedacht werden. Denn das Verhalten resultiert aus den Verhältnissen und auch andersherum. Über die Krankenkassen gibt es viele Angebote: Machen Sie den Yogakurs, der wird von uns bezahlt. Es gibt viele Studien dazu, dass sich diese Angebote an eine gut informierte Mittelschicht richten, die das aufnehmen, und sich dann gesundheitsbewusster verhalten: Weniger Rauchen, Sport machen, gesünder Essen. Dafür braucht man aber erstmal die Ressourcen, sowohl finanziell als auch zeitlich.

Man könnte aber auch die Wohnverhältnisse thematisieren oder die Auswirkungen von Rassismen und anderen Diskriminierungsformen auf Gesundheit und hier mit der Gesundheitsförderung und Präventionsarbeit ansetzen.

Gegenwind:

Weil ungesicherte, diskriminierende Arbeits- und Lebensbedingungen krank machen?

Milli Schroeder:

Die Probleme sehen wir in der Gesundheitsversorgung hier jeden Tag. Man merkt jeden Tag, dass die Leute hier bereits jünger kränker sind, als in anderen Stadtteilen.

Bevor wir hierher gekommen sind, haben wir uns die Ergebnisse des Hamburger Morbiditätsatlasses von 2013 angesehen. Im Morbiditätsatlas ist die gesundheitliche Belastungssituation in den Stadtteilen erhoben worden. Das Cluster Wilhelmsburg-Veddel ist im Hamburger Vergleich in drei von vier Kategorien am stärksten belastet. Es war uns also von vornherein klar, wie hoch die Belastung ist. Und trotzdem löst die alltägliche Konfrontation mit dieser gesundheitlichen Ungleichverteilung und die darin steckende gesellschaftliche Ungerechtigkeit nach wie vor Empörung bei mir aus. Mit welchem Recht wird Menschen auf so vielen unterschiedlichen Ebenen Stress zugemutet, der sie letztlich krank macht?

Irina Wibmer:

Und da ist unser Ansatz: Man braucht ein interdisziplinäres Versorgungsangebot, um auf die komplexen Problemlagen in benachteiligten Stadtteilen reagieren zu können und Unterstützungsangebote anzubieten. Die Leute entscheiden selbst, was sie in Anspruch nehmen wollen und auch nicht. Das unterscheidet uns von anderen Angeboten im Gesundheitssystem: Ein interdisziplinärer Ansatz, dessen Ziel es ist, eine gute Versorgung und Präventionsarbeit gemeinsam mit den Nutzer*innen zu entwickeln.

Gegenwind:

Wie ist die Resonanz im Stadtteil?

Milli Schroeder:

Sehr gut.

Gegenwind:

Eure Angebote werden also angenommen?

Irina Wibmer:

Menschen, die mit komplexen Problemlagen zu uns kommen, sind im ersten Moment manchmal etwas überfordert von den vielen Angeboten, die wir haben. Aber im zweiten Moment sind sie oft sehr erleichtert, wenn ich ihnen am Ende der Sprechstunde mitgeben kann, wo sie sich mit dieser oder jener Problemlage hinwenden können, etwa die soziale oder die psychologische Beratung. Wenn sie dann nach Hause gehen, und etwas in der Hand haben, sind sie oft erleichtert. Ihre Erwartungen wurden mehr als erfüllt. Weil sie erstmal vielleicht nur gekommen sind, weil sie Asthma haben und ein neues Asthma-Spray brauchen. Aber wenn sich dann im Gespräch mit der Ärztin raus kristallisiert hat, da gibt es noch ein paar andere Sachen. Da profitieren viele von, die Beratung wird sehr gut angenommen.

Gegenwind:

Vielleicht auch das Gefühl: Dass liegt Alles nicht nur an mir, und es gibt Möglichkeiten, was zu tun?

Irina Wibmer:

Genau. Viele sind überrascht - oh, da kann ich hingehen! Und dafür sind die kurzen Kommunikationswege hier in der Poliklinik gut. So kann die Kollegin, die Sozialberatung macht, kurz zu mir kommen, einen Raum weiter, und einen Termin ausmachen. Für viele Nutzer*innen ist es eine große Hürde, vor der Frage zu stehen, wo gehe ich denn jetzt als nächstes hin. Es ist unangenehm, wieder einen neuen Anlauf nehmen zu müssen. Von den kurzen Wegen hier profitieren viele.

Milli Schroeder:

Als ich am Anfang hier in der Poliklinik noch in der Sozialberatung war, fand ich es interessant, wie viele es eigentlich wissen, dass es nicht ihr individuelles Problem ist, dass das es alle betrifft, es strukturell ist.

Soziale Determinanten von Gesundheit sagt natürlich niemand, aber dass es die Lebensbedingungen sind, die sie krank machen, wissen alle. Die kennen ja ihre Situation. Wenn ich dann sage: Dass liegt ja auch an den Lebensumständen… dann sagen die: Komm, hör auf, klar, weiß ich doch. Dass macht mich krank, dass macht meine Nachbarin krank, dass macht die ganze Straße hier krank. Sie wissen sehr genau, dass ihre Lebensumstände das Problem sind. Aber wie kann eine politische Organisierung erfolgen? Punktuell klappt sie gut, zum Beispiel sollte 2019 der Warmwasserblock abgerissen werden, ein Häuserblock aus den zwanziger Jahren. Dagegen hat sich eine Mieter*innenintiative gegründet, die haben erfolgreich dagegen protestiert und gemeinsam mit Unterstützung unserer Gemeinwesenarbeiterin den Abriss verhindert. Die SAGA saniert den Warmwasserblock jetzt.

Aus der Erkenntnis, meine Lebensumstände sind schuld daran, dass ich krank bin, folgt nicht automatisch: okay, dagegen organisiere ich mich - vielleicht auch, weil das Vertrauen in einen Organisierungsprozess so gar nicht gegeben ist.

Irina Wibmer:

Viele haben gar keine Zeit. Die brauchen ihre Energie komplett dafür, viel arbeiten zu müssen, damit sie sich das Leben überhaupt leisten können mit niedrigen Löhnen. Die haben auch weniger Zeit, sich für Initiativen einzusetzen. Und glauben nicht daran, dass von unten überhaupt etwas verändert werden kann.

Deshalb sind Selbstorganisierungsprozesse für uns total interessant. Wir haben ja eine enge Kooperation mit dem Romani Kafava, einem niedrigschwelligen Beratungsangebot von und für Rom*nja. Wir konnten die beiden Frauen, die das Romani Kafava leiten, dafür gewinnen, bei uns als Peer-Beraterinnen tätig zu sein. Für uns ein Gewinn, weil wir von diesem Selbstorganisierungsprozess lernen können: Was sind Fragestellungen, die wir gar nicht so im Blick hatte, was müssen wir berücksichtigen?

Für die Zukunft fände ich es super, wenn wir viel mehr Selbstorganisierungsprozesse unterstützen würden. Empowerment als Bestandteil von Gesundheitsarbeit. Seine eigenen Belange in die Hand zu nehmen wirkt sich auch positiv auf die eigene Gesundheit aus.

Es ist etwas Anderes, ob wir von unserer eigenen, privilegierten Position auf Leute zugehen und denen vielleicht etwas aufdrücken oder ob die Leute auf uns zukommen, etwas wollen und ihre Bedürfnisse ausdrücken.

Gegenwind:

Zu euch trauen sich auch Leute, die gar kein Vertrauen mehr in Institutionen haben, wenn sie sehen, andere machen gute Erfahrungen?

Irina Wibmer:

Ja, solche Situationen kenne ich gut. Letztens beim Corona-Infostand kam eine Frau und sagte: Dich kenne ich ja schon. Im Gespräch stellte sich dann heraus, dass sie viele meiner Kolleg*innen kennt und insgesamt super vernetzt im Stadtteil ist. Auch ihren Sohn konnte sie an eine Kollegin in der Poliklinik weitervermitteln, was nicht nur für ihren Sohn, sondern auch für sie sehr erleichternd war. Ich fand schön zu sehen, dass sie wusste, wo sie sich mit ihren unterschiedlichen Bedarfen Unterstützung holen kann.

Gegenwind:

Auch von Leuten, die sonst kein Vertrauen haben?

Irina Wibmer:

Dafür sind die Mittler*innen wichtig, wie die beiden Frauen von Romani Kafava. Die haben als Vertreter*innen der Rom*nja-Community ganz anderen Zugang zu den Leuten.

Als Nichtmedizinische Mitarbeiter*innen haben wir den ersten Kontakt zu den Nutzer*innen. Von uns haben vier lange auf der Veddel gewohnt oder leben noch hier. Dass ist eine echte Bereicherung, weil sie einfach viele Leute kennen. Da werde ich häufig nach meiner Kollegin gefragt, weil ich nicht auf der Veddel wohne. Das heißt es, deine Kollegin kenne ich schon so lange, da ist viel Vertrauen da.

Gegenwind:

Und die Parteien in der Bezirksversammlung Mitte unterstützen eure Arbeit?

Milli Schroeder:

Wir kriegen sehr viel Zuspruch, eigentlich von allen Seiten, parteiübergreifend. Die halten alle unseren Ansatz für sinnvoll und finden das super dass wir hier sind und die ganze Arbeit machen, aber das schlägt sich leider nicht darin wieder, dass wir eine stabile Finanzierung bekommen würden - macht mal weiter so...

Gegenwind:

Warme Worte alleine reichen nicht?

Irina Wibmer:

Es ist wichtig, dass sich gesellschaftlich etwas ändert. Deshalb gibt es ja nicht nur uns hier auf der Veddel, sondern auch Projekte in anderen Städten, mit denen wir verbunden sind. Wir wollen auf Bundesebene daran arbeiten, dass sich die Verhältnisse ändern und solche Zentren, wie wir es sind, eine andere Finanzierungsmöglichkeit erhalten. Es muss eine Sozialgesetzbuch-übergreifende Finanzierung geben, damit jedes Stadtteilgesundheitszentrum für alle Angebote unter seinem Dach die Abrechnung machen kann: Die Praxis rechnet für sich alleine ab, Hebammenpraxis rechnet für sich alleine ab, und der Verein ist auf die ganzen Zusatzanträge angewiesen. Wir brauchen eine übergreifende Finanzierung für Stadtteilgesundheitszentren, vielleicht angelehnt an die sozialgeriatrischen Zentren.

Gegenwind:

Eine bedarfsorientierte Basisfinanzierung?

Milli Schroeder:

Ja.

Gegenwind:

Wie sieht es mit Gewerkschaftskontakten aus?

Milli Schroeder:

Sind auf jeden Fall interessant. Mich würde es zum Beispiel sehr interessieren, was gibt es für Ansätze für die Organisierung von Paketdienstfahrern. Hier auf der Peute, im Industriegebiet am Elbufer gibt es ein großes Auslieferungslager von Amazon. Wie sieht es dort mit Organisierung aus? Wie ist der Gesundheitszustand der Belegschaft? Oder in der größten Kupfermühle Europas, die hier auf der Veddel ist, Aurubis: Wie viele Leute sind da organisiert?

Oder was machen Gewerkschaften bei den Reinigungskräften? Viele Leute hier arbeiten im Reinigungssektor. Dass finde ich total spannend, was gibt es in dem Bereich für Ansätze im DGB.

Gegenwind:

Bei Amazon ist die Organisierung schwierig, an Streiks oder gewerkschaftlichen Aktivitäten beteiligt sich nur ein kleinerer Teil der Belegschaft.

Milli Schroeder:

Die Erfahrungen, die wir machen, sind vielleicht ganz ähnlich wie die, die Gewerkschafter*innen machen: Was sind unsere Ansatzpunkte, sollen wir die möglicherweise noch mal überdenken? Genau weil es beim Paketdienst, bei Amazon so schwierig ist, finde ich die Frage richtig spannend: Wie ansetzen?

Gegenwind:

Im Ampel-Koalitionsvertrag wird der Ausbau multiprofessioneller Gesundheits- und Notfallzentren zur Sicherstellung bedarfsgerechter ambulanter Versorgung versprochen und der Aufbau niedrigschwelliger Beratungsangebote in besonders benachteiligten Kommunen und Stadtteilen - was haltet ihr davon?

Irina Wibmer:

Wir begrüßen es ausdrücklich. Die Poliklinik Veddel und vergleichbare Primärversorgungszentren wie das Gesundheitskollektiv Berlin oder das Solidarische Gesundheitszentrum Leipzig decken schon jetzt beide Aspekte ab und können als Vorbilder für weitere multiprofessionelle Gesundheitszentren dienen. Aber bis jetzt fehlen die entsprechenden Vergütungsstrukturen. Aus unserer Sicht ist ein Sozialgesetzbuch-übergreifendes, bedarfsgerechtes Kostendeckungsprinzip, wie es im stationären Sektor bis in die neunziger Jahre üblichen war, für Stadtteilgesundheitszentren dringend notwendig. Nur so können wir langfristig auf die komplexen, gesundheitsbelastenden Problemlagen vieler Menschen reagieren.

Milli Schroeder:

Fallpauschalen oder neue finanzielle Anreizmodelle wie Pay for Performance sind dagegen Modelle der Ökonomisierung. Sie erhöhen Fehlanreize und den Konkurrenzdruck.

Die Bereitschaft, das Präventionsengagement in besonders benachteiligten Kommunen und Stadtteilen auszubauen, ist nicht zuletzt angesichts der Auswirkungen der Covid-19-Pandemie dringend notwendig. In Bezug auf die Etablierung von Gesundheitsregionen durch bevölkerungsbezogene Versorgungsverträge wird es sehr stark auf die konkrete Ausgestaltung ankommen: Wir sehen in Gesundheitsregionen in kommunaler Trägerschaft eine Chance, Gesundheitsversorgung neu zu denken. Werden sie allerdings - wie ebenfalls häufig diskutiert - durch Private Equity-Gesellschaften realisiert, bedeutet dies eine Kommerzialisierung von Gesundheitsdienstleistungen in bislang hierzulande unbekanntem Ausmaß.

Gegenwind:

Vielen Dank und viel Erfolg euch!

Interview: Gaston Kirsche

Der Stadtteil Veddel

Die Hamburger Poliklinik sollte dort eröffnet werden, wo der Bedarf am größten ist; bei dieser Entscheidung half der 2013 von der Stadt veröffentlichte „Morbiditätsatlas Hamburg“. Die Menschen auf der Veddel sind früher chronisch krank: Von Depression über Diabetes bis hin zur Herzinsuffizienz.

Der S-Bahnhof, mitten im kleinen Stadtteil Veddel gelegen, ist für die meisten Anwohnenden die wichtigste Verkehrsverbindung. Denn während in Hamburg im Durchschnitt 339 Autos auf 1.000 Einwohnende kommen, sind es auf der Veddel nur 166. Vom Autoverkehr bekommen die auf de Veddel Wohnenden dafür überdurchschnittlich viel Lärmbelästigung und Abgasbelastung ab. Der hafennahe, auf einer Elbinsel neben Wilhelmsburg gelegene, traditionelle Arbeiterstadtteil ist seit Jahrzehnten von Verarmung geprägt. 4.475 Menschen sind auf der Veddel gemeldet und wohnen in den typischen mehrgeschossigen Klinkerbauten beengt zur Miete. Die Stadtteildaten des Statistikamtes Nord sind eindeutig: 27,8 Quadratmeter Wohnfläche hat jede gemeldete Person auf der Veddel im Durchschnitt, in ganz Hamburg sind es 38,8 Quadratmeter. Einen Großteil der Fläche des Stadtviertels nehmen Industrieanlagen ein, etwa auf der zu Veddel gehörenden Peute. Die zunehmend desolate Sozialstruktur auf der Veddel wird seit Jahrzehnten durch vor allem aus Südosteuropa vom Balkan bis zur Türkei eingewanderte Familien stabilisiert, welche einen Großteil der Geschäfte für die Nahversorgung betreiben. Das Durchschnittseinkommen liegt bei jährlich 15.831 Euro, im großbürgerlichen Nienstedten dagegen bei 120.000 Euro jährlich. 23,7 Prozent der Anwohnenden sind auf der Veddel auf Hartz-IV angewiesen, der Hamburger Durchschnitt liegt mit 9,5 Prozent wesentlich darunter. Von den über 65-jährigen sind auf der Veddel 25,1 Prozent auf Grundsicherung angewiesen, in ganz Hamburg liegt der Wert bei 8 Prozent.

Es ist ein kleiner Stadtteil, der von Industrieanlagen geprägt ist und von der Norderelbe, Autobahnen und Gleisanlagen begrenzt wird. Die Lärmbelastung ist selbst für Hamburger Verhältnisse hoch, und bei Ostwind liegt ein beißender Geruch in der Luft - nebenan produzieren Industriebetriebe wie die größte Kupferhütte Europas, die Norddeutsche Affinerie, die jetzt Aurubis heißt, auch die Delfi Cocoa Europe, in deren großem Werk jährlich 100.000 Tonnen Kakaobohnen zu Schokoladenvorprodukten verarbeitet werden. Neu Zuziehende haben meist keinen deutschen Pass, so wie 44 Prozent auf der Veddel - in ganz Hamburg trifft dies nur auf 15,7 Prozent zu. Bei den unter 18-jährigen haben 93 Prozent offiziell einen Migrationshintergrund, in ganz Hamburg 49 Prozent. Blond ist woanders. Auf der Veddel gibt es weniger rassistische Angriffe und Beleidigungen durch die Mehrheitsgesellschaft. Zusammen mit Wilhelmsburg gilt die Veddel in Hamburg als türkisch dominiertes Gebiet. Nicht nur im autochthon geprägten Speckgürtel am südlichen Rand von Hamburg wird auf die allochthon geprägte Armut auf den Elbinseln herabgeschaut. Durch die prekären Lebensverhältnisse und ungeschütztes Arbeiten liegt auch die Zahl der Corona-Infektionen pro 1000 Einwohnende fast drei mal so hoch wie der Hamburger Durchschnitt: Von Februar 2020 bis April 2021 erkrankten auf der Veddel 425 Menschen an Corona, das entspricht 91,8 auf 1.000 Einwohnende. In ganz Hamburg erkrankten im gleichen Zeitraum 37,8 auf 1.000 Einwohnende.

Gaston Kirsche

Die Poliklinik

Das Kollektiv der Poliklinik im armen Hamburger Stadtteil Veddel agiert gegen die Ungleichverteilung von Gesundheitschancen

Seit 2017 existiert die von einem kleinen Verein selbstorganisierte Poliklinik auf der Veddel. Als die Bremer Gesundheitssenatorin Claudia Bernhard von der Partei Die Linke im Dezember 2021 Hamburg besuchte, um sich über die Bekämpfung der Coronapandemie auszutauschen, besuchte sie auch die Poliklinik auf der Veddel. Im April 2021 startete die Poliklinik mit einem Corona-Impfzentrum, in dem wöchentlich zusätzlich zur üblichen Zuteilung 100 Dosen gespritzt werden konnten. Auf mehrsprachigen Flyern und mit einem Corona-Infostand wurde dazu eingeladen. Im Dezember wurden im Rahmen einer Impfaktionswoche Hunderte geboostert - auch Interessierte ohne Krankenversicherung. Die Angebote der Poliklinik sind im Stadtteil präsent: In Cafés hängen mehrsprachige Plakate, in den Eingängen der Wohnblöcke hängen Infozettel in verschiedenen Sprachen.

Das nebenstehende Interview mit Milli Schroeder und Irina Wibmer von der Poliklinik ist entstanden im oberen Stockwerk des zur Poliklinik umfunktionierten kleinen ehemaligen Pferdestalls einer Polizeikaserne an der Straße Am Zollhafen. Wie die großen Wohnblocks ringsherum ein, wen auch kleinerer, Klinkerbau aus den zwanziger Jahren. Vom Eingangsbereich gab es eine kleine Führung außerhalb der Sprechzeiten durch die einfach eingerichteten Behandlungs- und Besprechungszimmer. „Der Raum hier war erst unbeliebt, weil die Fenster so klein und hoch unter der Decke sind, aber jetzt hat der Raum einen großen Vorteil“, meint Milli Schroeder: „Durch die Tür direkt nach draußen kann hier die Corona-Infektsprechstunde stattfinden“. Eine Stahltreppe geht es in den ersten Stock hinauf, in einen großen Raum. Mehrere Schreibtische stehen verteilt, für die Büroarbeiten. Eine kleine Teeküche, alles recht spartanisch. Aber in der Mitte ein großer Besprechungstisch, an dem Milli Schroeder und Irina Wibmer ihre Mittagspause damit verbringen, mir als Autoren die Poliklinik vorzustellen. Es ist ein Kommen und Gehen, kurze leise Besprechungen.

Die Poliklinik ging 2017 an den Start. Ähnliche Projekte gibt es auch in anderen Städten. Etwa das Gesundheitskollektiv Berlin, die Poliklinik Leipzig oder das Gesundheitskollektiv Dresden, das auf seiner Internetseite schreibt: „Mit der Idee einer Gesundheitsversorgung, die über den Stand der momentanen, medizinischen Versorgung hinausgeht, sind wir nicht allein“. Das bundesweite Poliklinik-Syndikat ist „ein Zusammenschluss von Projekten, die durch den Aufbau und den Betrieb eines Gesundheitszentrums, Gesundheit interdisziplinär, individuell und kollektiv behandeln und verhandeln, gesellschaftspolitisch intervenieren und für eine gerechte und solidarische Gesellschaft eintreten und kämpfen“.

Zu Beginn gab es in der Poliklinik Veddel nur ein allgemeinmedizinisches hausärztliches Angebot mit zwei Mitarbeitenden und die ehrenamtlich organisierte Gesundheits- und Sozialberatung. Getragen von Beginn an von einem Kollektiv: Der „Gruppe für Stadtteilgesundheit und Verhältnisprävention e.V.“. Mittlerweile hat die Stadtteilpraxis Veddel zwei Arztsitze mit 13 Mitarbeitenden, es gibt eine Hebammenpraxis, weitere 13 Mitarbeitende sind über den Verein „Gruppe für Stadtteilgesundheit und Verhältnisprävention e.V.“ angestellt.

Wichtig ist es in der Poliklinik auch, sich zwischen den unterschiedlichen Bereichen über die Fälle auszutauschen, auf wöchentlichen Teamsitzungen. So gab es 2021 etwa 31 Fallkonferenzen, in denen das Team gemeinsam mit Nutzer*innen die bestmögliche Unterstützung besprochen hat. Die Poliklinik hat seit 2021 zwei weitere Standorte auf der Veddel.

Für eine Sitzung eines Ausschusses des Bezirks Hamburg-Mitte am 25. November 2021 fasste Milli Schroeder in der Präsentation „5 Jahre Poliklinik Veddel“ die Zielsetzung knapp so zusammen: „Entwicklung einer Alternative in der ambulanten Gesundheitsversorgung und -vorsorge: Verbindung von interdisziplinärer Versorgung mit partizipativer Gemeinwesenarbeit & Adressierung der sozialen Determinanten der Gesundheit“.

Am 30. März 2022 veranstaltete die Poliklinik Veddel online frei zugänglich eine Gesundheitskonferenz zum Thema: „2 Jahre Pandemie - Prävention gegen wachsende gesundheitliche Ungleichheit!“ Unter Beteiligung von Referierenden aus dem Robert-Koch-Institut, der Sozialbehörde Hamburg und von Universitäten diskutierten Beschäftigte der Poliklinik und Interessierte zu Fragen wie: „Gesundheitliche Chancengleichheit und Corona: Wie reagieren wir auf der Veddel auf die Verschärfung der Ungleichheit?“ und „Psychische Belastungen von Kindern und Jugendlichen: Was können wir auf der Veddel tun?“, aber auch über Bildungschancen und Corona: „Was sind Herausforderungen und Chancen auf der Veddel?“ Der soziale Blick auf die Pandemie, der sonst oft zu kurz kommt - die Poliklinik stellt ihn in den Mittelpunkt.

Gaston Kirsche

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