(Gegenwind 408, September 2022)

Jochen Steffen

„Bürgerschreck“, „Rebell“, „verkappter Kommunist“

Eine Annäherung an Jochen Steffen anlässlich seines 100. Geburtstages

Unter dem Taufnamen Karl Joachim Jürgen am 19. September 1922 in Kiel-Gaarden geboren, prägte von Mitte der 60er bis Mitte der 70er Jahre der „Rote Jochen“, Joachim Steffen, die schleswig-holsteinische SPD maßgeblich: Als Landesvorsitzender, Fraktionsvorsitzender und zweimaliger Spitzenkandidat bei den Landtagswahlen. Auf Bundesebene war als profilierter linker Sozialdemokrat seit 1973 Vorsitzender der SPD-Grundwertekommission.

In den Nachrufen (Steffen starb wenige Tage nach seinem 65 Geburtstag am 27.9.1987 in Kiel) wurden dann noch einmal aus den Zeitungs-Archiven alle Attribute heraus gekramt, mit denen er sich Zeit seines Lebens konfrontiert sah: „Rebell“, „demokratischer Marxist“, „grüner Sozialist“, „Bürgerschreck“, „verkappter Kommunist“.

Was erinnert jetzt, fünfunddreißig Jahre nach seinem Tod, an Jochen Steffen?

Schon anlässlich seines Todes schrieb der „Spiegel“: „Die Spuren dessen, der am vorletzten Sonntag in seiner Heimatstadt Kiel starb, sind, wenn es je Abdrücke gegeben hat, längst verweht.“ Heute um so mehr. Ein Blick auf die aktuelle Politik und „Performance“ der schleswig-holsteinischen SPD bestätigt dies. War es der SPD unter Steffens Ägide um eine klare politisch-inhaltliche Abgrenzung gegenüber der CDU gegangen, so agierte die SPD im zurückliegenden Landtagswahlkampf eher als blasse CDU-Kopie und erhielt die entsprechende Quittung: Lediglich noch 16 Prozent der Zweitstimmen landesweit und z.B. Verlust aller Direktmandate in Kiel.

Anmerkung am Rande: Wer einen Gedenkstein von Jochen Steffen in Augenschein nehmen will, muss sich auf den Weg in den Garten der Gustav-Heinemann-Bildungsstätte nach Malente (am Kellersee) machen.

Dabei sind (auch für mich überraschend) viele Überlegungen Steffens von geradezu brennender Aktualität. So z.B., wenn er im Vorwort seines 1974 veröffentlichten Buches „Strukturelle Revolution“ schreibt: „Ich hoffe, dass dieses Buch etwas dazu hilft, dass das Wiedererwachen der existenziellen Impulse der Arbeiterbewegung nicht zu einer Reprise ihrer historischen Entwicklung mit allen Fehlern und Irrwegen führt. Während dieses Buch in den Satz geht, belehren uns die sog. Ölkrise und die politischen Reaktionen auf sie darüber, was es heißt in einem irrationalen System zu leben, das seine Friedlosigkeit, seinen Problemdruck und die fortschreitende Unterwerfung des Menschen unter die von ihm selbst erzeugten Dinge ständig zum Ausbruch drängt.“

Zutreffender kann die gegenwärtige gesellschaftliche Situation kaum beschrieben werden.

Zur Biografie und politischer Karriere

Nach dem Kriegsabitur (1941) wurde Jochen Steffen zur Marine eingezogen und musste seinen Dienst unter einem Kompaniechef namens Helmut Lemke, dem späteren Eckernförder Nazi-Bürgermeister und CDU-Ministerpräsidenten von Schleswig-Holstein ableisten. Nach dem Krieg nahm er das Studium an der CAU in Kiel auf (Philosophie, Soziologie). Obwohl ohne Abschluss, arbeitete er bis 1956 als Assistent von Professor Michael Freund am Institut für Wissenschaft und Geschichte der Politik an der Uni. Co-Assistent bei Freund, also „Arbeitskollege“ von Steffen war übrigens Gerhard Stoltenberg, ein weiterer späterer Ministerpräsident.

Was die politische Orientierung nach dem Krieg anbelangt, beschreibt Steffen in seinen „Autobiographischen Texten“: „Ich stand ‚links'. Und ‚links' hatte keine Chance ohne die Arbeiterbewegung. Wollte man in der Arbeiterbewegung mitwirken, mußte man Partei nehmen. KPD oder SPD.“ Bei Treffen mit Kommunisten und Sozialdemokraten wurde er von beiden Seiten aufgefordert, „mich ihnen anzuschließen.“ Nach ernsthaften Abwägen zog Steffen folgende Schlussfolgerung: „Die KPD nicht zu wählen, hatte wesentliche Gründe („Wie hältst du es mit der führenden Rolle der Partei (der Sowjetunion) und dem demokratischen Zentralismus“). Gegen einen Beitritt zur SPD gab es keine solchen Gründe.“

1954 wurde Steffen Juso-Landesvorsitzender und erhielt prompt ein Jahr später „Redeverbot“ wegen massiver Kritik am damaligen SPD-Parteivorsitzenden Erich Ollenhauer, weil er gegen dessen Wiederbewaffnungs- und Westeuropa-Politik der SPD „immer vom Leder gezogen hatte“. Von 1965 bis 1975 war er Landesvorsitzender der SPD in Schleswig-Holstein; seit 1958 gehörte er dem Landtag an.

In den Landtagswahlen 1967 und 1971 wurde er in seinem Wahlkreis 29 (Kiel-Ost) direkt gewählt. Bei beiden Wahlen gelang es ihn jedoch nicht, Ministerpräsident zu werden; er musste sich den CDU-Spitzenkandidaten Lemke und Stoltenberg geschlagen geben. Insbesondere die 71er-Wahl-Niederlage, in der er auch medienwirksam durch Bundeskanzler Willy Brandt und einer Wähler-Initiative - angeführt von den Schriftstellern Günter Grass und Siegfried Lenz - unterstützt wurde, nagte an ihm. Die CDU konnte erstmals die absolute Mehrheit erringen und erzielte mit 51,9 Prozent der Stimmen ihr bis heute bestes Ergebnis in Schleswig-Holstein. Die SPD erhielt 41 Prozent (gegenüber 39,4 bei der Landtagswahl 1967). FDP und NPD verfehlten den Wiedereinzug ins Parlament.

Steffen wurde 1973 Vorsitzender der SPD-Grundwertekommission, gab den Auftrag aber im November 1976 zurück, denn „als Mensch, als Person und auch als Politiker halte ich den Widerspruch zwischen unseren Prinzipien und unserer tatsächlichen Politik - nebst ihren propagandistischen Begründungen - nicht aus.“

Im September 1977 gab er sein Landtagsmandat auf und Ende 1979 trat Jochen Steffen aus der SPD aus. Doch nicht nur das - der „Kieler Jung“ verließ den hohem Norden und zog nach Niederösterreich aufs platte Land und widmete sich von dort aus seiner publizistischen Arbeit und seinen Auftritten als Kabarettfigur „Kuddl Schnööf“. In dessen „achtersinnigen Gedankens“ blieb Steffen seinem politischen und aufklärerischen Anspruch treu. Dabei nutzte er das „Missingsch“, den Mix von Hoch- und Plattdeutsch, als Chiffre für die Sprache der „kleinen Leute“, als Stilmittel.

Für Entspannungspolitik und einen Dialog mit der APO

Bereits auf dem Landesparteitag der SPD 1966 griff Steffen Egon Bahrs Idee des „Wandels durch Annäherung“ auf und forderte mit der „Eutiner Erklärung“ die Aufnahme von Gesprächen mit der DDR-Führung. Er suchte nach Wegen zwischen den weltpolitischen Blöcken - so besuchte er neben der DDR auch Präsident Tito in Jugoslawien.

1968 plädierte Jochen Steffen für ein Bündnis der SPD mit den revoltierenden Studierenden. Dem „Spiegel“ gegenüber sagte er, dass es darum gehe, wer die zukünftige Entwicklung einer „modernen Industriegesellschaft“ richtig einschätze: „Wenn sie (die außerparlamentarische Opposition, GSt) falsche Parolen haben, auf Ho Tschiminh schwören oder auf Che Guevara, dann muß sich die SPD als Partei der sozialen Reformen zuerst einmal fragen, warum die Studenten sich für solche Idole begeistern. Denn die Studenten haben solche Idole doch nur, weil ihnen die politischen Probleme ihrer eigenen Gesellschaft nicht konkret, sondern irrational dargeboten werden.“

Für Steffen waren die Ziele der Arbeiterbewegung nicht nur eine materiell-soziale Entwicklung des Einzelnen in einer bürgerlichen Gesellschaft, sie waren auch eine Emanzipationsbewegung des Individuums in einer solidarischen Gesellschaft. Mit dieser Überzeugung grenzte er sich deutlich von Teilen der außerparlamentarischen Linken ab, die leninistische Parteimodelle und realsozialistische Staaten als gesellschaftliche Alternativen ansahen. Man kann verstehen, dass diese Überzeugung, die in jeder Versammlung von ihm vorgetragen wurde, manchen Linken nicht gerade für ihn, den „Sozi“, einnahm („Wer hat uns verraten...“) und die „Bündnisfrage“ zwischen Jungsozialisten und jungen Kommunisten in Frage stellte.

Trialektik von Mensch, Gesellschaft und Natur

Jochen Steffen galt als „Parteiintellektueller“, der sein Handeln theoretisch zu untermauern suchte. Ihm ging es nie nur um die Entscheidung von Sachfragen, sondern immer um die Lösung langfristiger oder grundsätzlicher Probleme. Und er war lernfähig und wusste sich zu korrigieren, wenn seine Analyse der Gesellschaftspolitik nicht mehr stimmig erschien. So hatte er in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre programmatisch ganz auf neue Technologie gesetzt: Schleswig-Holstein sollte die modernsten Infrastrukturen haben, Autobahnen und Schnellstraßen, Energie aus zahlreichen Atomkraftwerken. 1973 begann das Umdenken in der Landes-SPD. Steffen revidierte eine Reihe seiner Positionen und wurde ein Kritiker der Kernenergie.

In seinem 1974 veröffentlichten Buch „Strukturelle Revolution“ untersucht Steffen philosophisch und politisch die „Trialektik“ von Mensch, Gesellschaft und Natur, ohne deren Beachtung seiner Ansicht nach sich jeder ökonomische Fortschritt aufhebt. In dieses Buch unternimmt Steffen den Versuch, theoretisch fundiert Grundlinien für eine politische Praxis zu entwerfen - jenseits vom real existierenden Kapitalismus („des Westens“) wie des real existierenden Sozialismus („Staatskommunismus“). Dabei lässt er sich von zwei Prämissen leiten, die seinem Verständnis nach für ein „marxistisches Denken“ essentiell sind:

Erstens: Der Mensch ist ein sich selbst entfremdetes Wesen, das unter der Herrschaft der Produktion steht, die er hervorgebracht hat, statt sie zu beherrschen.

Zweitens: Die Triebkraft gesellschaftlicher Entwicklung und Veränderung ist der Klassenkampf.

„Die Veränderung der Gesellschaft auf Sozialismus hin ist die Triebkraft des Klassenkampfes. Er setzt voraus, dass die Gruppen der arbeitenden Klasse ihre Teilziele und deren Verwirklichung, ausgehend von den realen Bedürfnissen der elenden, Sprachlosen und machtlosen Minderheiten in der Gesellschaft formulieren und anstreben. Geschieht das nicht, tritt an die Stelle des Klassenkampfes um die Veränderung des Ganzen, seiner Ziele und Strukturen, der Kampf der Gruppen in der Klasse. Das würde die Voraussetzungen des Irrationalismus und der Inhumanität des jetzigen sozioökonomischen Systems zementieren.“

Auf die heutige SPD als Regierungspartei angesprochen - jetzt, wo diese Zeilen geschrieben werden, sind gerade 200.000 Euro im Bank-Schließfach des Warburg-Bank-Paten und Olaf Scholz Spezies Kahrs entdeckt worden - würde er vielleicht so antworten:

„Ich versteh die Welt nich mehr. Mein Natalje sacht: ‚Nu, bist du denn vielleicht glücklich über disse Regierung?’' Ich sach: Tschä, sach ich, tschä, weiß du...ich weiß nich...asso, gewissermaßen...ähem, ähem...“

P.S.:

Wer Interesse auch an die Privatperson Jochen Steffen hat, sollte die Erinnerungen seines Sohnes Jens-Peter lesen, abgedrückt in einem voluminösen Erinnerungsband (725 Seiten).

Günther Stamer

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