(Gegenwind 427, April 2024)

#Stand with Ukraine
Foto von der Demonstration am 24. Februar in Kiel,
zweiter Jahrestag des „großen“ Angriffs Russlands auf die Ukraine.

Russische Invasion

Langer Krieg geplant?

Situation der Flüchtlinge nur vorläufig geklärt

Seit zehn Jahren herrscht Krieg in der Ukraine. Russland hatte ursprünglich 2014 nur die Krim und die Ostukraine angegriffen. Zwar starben Tausende ukrainischer Zivilisten, aber es war doch ein regional begrenzter Krieg. Ein paar Wochen leugnete Russland sogar, dass es die eigenen Truppen wären - aber seit dem Herbst 2014 wissen wir, dass Russland mit 26.000 Soldaten in die Ostukraine einmarschiert war und die „Separatisten“ nur russische Soldaten ohne Uniform waren. 2022 begann Russland den „totalen“ Krieg, und der scheint nochmal mehrere Jahre zu dauern.

2022 griff Russland an, in der Ukraine wird das zur Unterscheidung vom Angriff 2014 der „große Krieg“ genannt. Zu Beginn waren alle dagegen, die Demokratie zu unterstützen: Russland sei übermächtig und nicht zu stoppen. Die Ukraine stoppte den Angriff nicht nur, sondern schlug ihn zurück. Von den 40 Prozent der Ukraine, die Russland Ende März 2022 besetzt hielt, wurde in den folgenden zwölf Monaten die Hälfte befreit.

So schaffte die Ukraine die Revision der ursprünglichen Sicht. Aber die Unterstützung kam zögerlich und mit vielen Debatten. Das mag löblich sein, weil die Ukraine natürlich von Demokratien unterstützt wird, und in Demokratien wird nun mal diskutiert. Aber dadurch wurde Russland immer darauf vorbereitet und konnte Gegenmaßnahmen treffen. So konnte Russland monatelang Befestigungen und Minenfelder gegen Panzer anlegen, bevor die Panzer geliefert wurden und eingesetzt werden konnten.

Wie es auch geht, zeigte Schweden, das ja bis Anfang März 2024 nicht in der NATO war und deshalb seine Lieferungen nicht absprechen musste. Anfang April 2022, als die Diskussion über die Unterstützung der Ukraine einen ersten Höhepunkt erreichte, überflogen russische Bomber schwedische Inseln in der Ostsee, unter den Flügeln deutlich sichtbare Atombomben. Das hielt Russland für ein beherrschbares Risiko, um Schweden zu warnen, eben weil kein NATO-Gebiet verletzt wurde. Schweden protestierte sichtbar nur diplomatisch - und stationierte schwedische Mistral-Luftabwehr im Süden der Ukraine. So konnte die Ukraine überraschend einige russische Bomber abschießen, es traf sie unvorbereitet, und erst lange danach gab Schweden das als Reaktion auf die Luftraumverletzung bekannt.

Später gab auch Norwegen bekannt, über Lieferungen an die Ukraine nicht mehr öffentlich zu diskutieren. So gelangen ein paar Überraschungen, die Angreifer erlitten erhebliche Verluste.

Deutsche Diskussion

In Deutschland wurde die Unterstützung selbst nicht so intensiv diskutiert. Deutschland hatte 1941 selbst die Ukraine angegriffen, besetzt und Millionen Zivilist:innen getötet. Insofern war und ist Deutschland vor dem Hintergrund seiner Geschichte natürlich verpflichtet, heute der Ukraine gegen den Angriff beizustehen.

Strittig war und ist der Umfang. Deutschland begann mit Schutzausrüstung und finanzieller Hilfe. Der damalige Spott war nicht angebracht, denn die hohen russischen Verluste im Vergleich mit den niedrigen ukrainischen Verlusten zeigen auch, wie wichtig Schutzausrüstung ist. Wichtig war dann Artillerie, da lieferten andere gezogene und selbstfahrende Artillerie wie die M-142 oder M-777, Deutschland lieferte die Panzerhaubitze 2000. In der Folge wurden die Mengen oft beanstandet, ohne zu berücksichtigen, dass die westliche Artillerie viel präziser trifft als die russische, die ungefähr 20mal so viel Munition benötigt.

Der nächste Schritt betraf die Luftabwehr. Hier lieferte Deutschland das Iris-T-System, mehrere Länder lieferten Patriot-Systeme. Andere Systeme aus Frankreich und Großbritannien kamen dazu. Sie können allerdings nur die Großstädte in der zentralen und westlichen Ukraine schützen. Russland greift täglich Wohnviertel an, um die Zivilbevölkerung zu zermürben, aber auch, um die moderne Luftabwehr von der Front fernzuhalten. Teils konnte die Ukraine aber die hochmobilen Systeme (z.B. das deutsche Patriot-System) direkt an die Grenze verlegen und angreifende russische Flugzeuge noch über russischen Gebiet abschießen, gut sichtbar für die dort lebende Bevölkerung - und durch die im Internet veröffentlichen Handyfilme auch für uns.

Auch der vergleichsweise alte Gepard wurde geliefert, der überraschend erfolgreich in der Bekämpfung iranischer Drohnen ist. Er wurde so erfolgreich, dass die USA vier Dutzend Gepard-Panzer in Jordanien kauften und ebenfalls in die Ukraine lieferten.

Der nächste Schritt war die Lieferung von Kampfpanzern. Auch hier wurden Lieferungen des Abrams, Challenger-2 und Leopard-2 sehr breit diskutiert, der moderne schwedische CV-90 kam ohne große Diskussionen in der Ukraine an. Allerdings sorgen die Diskussionen eben auch dafür, dass die russischen Angreifer Monate Zeit hatten, in der Ukraine Minenfelder anzulegen.

Ukrainische Offensive gescheitert?

Viel diskutiert wurde die ukrainische Offensive ab dem Sommer 2023. Viele Zeitungen in Deutschland hatten hohe Erwartungen (Durchbruch zum Schwarzen Meer) und wurden entsprechend enttäuscht. Die Ukraine vermied es, klare Ziele zu benennen, schon um dem Angreifer nicht zu viele Informationen zu geben.

Es gelang, im Süden soweit vorzurücken, dass der Verkehrsknotenpunkt Tokmak in Artillerie-Reichweite kam, ein für die russische Armee gefährliches Hindernis für den Nachschub an Munition.

Was bei der Bilanz der Presse, die Offensive wäre gescheitert, zu wenig in den Blick gerät, sind die Erfolge der ukrainischen Armee hinter der Front. Die Ukraine baut inzwischen selbst relativ moderne Drohnen, mit denen einzelne Panzer in Bereitstellungsräumen angegriffen und zerstört werden, außerdem Öllager und Raffinerien. Das ist in der russischen Wirtschaft inzwischen spürbar, die Bombardierung der Ölverladeeinrichtungen im Petersburger Hafen führte zum Stop aller Verladungen, rund 20 leere LPG-Tanker lagen danach wochenlang vor dem Hafen. Seit Anfang diesen Jahres greift die Ukraine russische Raffinerien an, von den 45 Raffinerien des Landes hatte sie bis Mitte März 13 getroffen und in Brand gesetzt.

Dann sollte man sich die Verluste der Schwarzmeer-Flotte ansehen. Fast ein Drittel der russischen Schiffe wurden versenkt, meistens durch Seedrohnen oder Marschflugkörper. Die restlichen Schiffe haben zumeist die Krim verlassen, auch weil die Ukraine die Werft in Sewastopol zerstört hat. Der Effekt: Russland hat zwar das Getreideabkommen gekündigt, aber die Ukraine exportiert jetzt unbehindert. Während des Abkommens kontrollierten russische Delegierte in der Türkei, dass die Schiffe auf dem Rückweg keine Waffen und Munition transportieren. Durch die Kündigung kann Russland das jetzt nicht mehr, deshalb kann die Ukraine jetzt ungehindert auch Importe über Schwarze Meer abwickeln.

Die Ukraine konnte im letzten halben Jahr über 1.000 Frachtschiffe durchs Schwarze Meer schicken und 30 Millionen Tonnen Exporte abwickeln - ohne russischen Einfluss.

Munitionsmangel

Gebremst wurden beide Seiten vom Munitionsmangel, der die ukrainische Seite härter traf. Der Grund dafür ist, dass die NATO nie (im Gegensatz zur russischen Behauptung) auf einen Krieg vorbereitet war. Auch jetzt haben NATO-Staaten kaum etwas unternommen, um diesen Zustand zu ändern. Zwar wurde ausgemusterte Waffen und gelagerte Munition geliefert, aber nichts dafür getan, die Produktion zu starten - und die NATO hat eben nur Munition für ein paar Tage Krieg gelegert, das reicht nicht, um die Demokratie in der Ukraine zu verteidigen.

Dänemark hat im März 2024 beschlossen, die gesamte Artillerie der dänischen Armee mitsamt aller Munition an die Ukraine zu verschenken. Danach wollen sie alles neu bestellen, auch wenn die Produktion ein paar Jahre dauert. Das zeigt, dass man in Dänemark den umgekehrten Weg wie Deutschland geht: Erst den russischen Angriff stoppen, dann erst die eigene Verteidigungsfähigkeit wieder herstellen. Deutschland hat das 100-Milliarden-Programm für die Bundeswehr beschlossen und will der Ukraine erst 2025 spürbar Munition liefern.

Es gibt auch Beobachter, die davon ausgehen, dass der ukrainische Munitionsmangel bewusst herbeigeführt wurde, weil Frankreich und Deutschland im Gegensatz zu den osteuropäischen Staaten keinen ukrainischen Sieg wollen, sondern einen langen Krieg mit hohen russischen Verlusten und ein Patt am Ende.

Wer gewinnt?

Generell kann es jederzeit passieren, dass in einem Frontabschnitt die eine oder andere Seite zusammenbricht. Die ukrainische Seite hat wenig Munition. Die russische Seite hat zur Zeit viel Munition aus Nordkorea, die aber zu rund 50 Prozent versagt. Die Zahl der Panzer liegt auf der Russischen Seite bei rund 30 Prozent verglichen mit der Situation 2022.

Generell sieht es also so aus, als könnte Russland den Krieg - allerdings weiter mit erheblichen Opfern an Waffen und Menschen - noch mehrere Jahre weiter führen. Russland hat einen Mangel an Arbeitskräften und einen Mangel an westlichen Komponenten, die für alle Waffen gebraucht werden, jetzt aber wegen der Sanktionen einzeln ins Land geschmuggelt werden müssen.

Die Ukraine hat soviel, wie die rund 30 Demokratien zur Unterstützung liefern. Die Tschechische Republik liefert jetzt mit finanzieller Hilfe von den Niederlanden, Belgien und Deutschland mehr als 800.000 Artilleriegranaten, Frankreich will nochmal die gleiche Menge beisteuern. Und ab dem Sommer soll eine ukrainische Luftwaffe aufgebaut werden, die vor allem aus F-16 besteht. Da kommt es aber vor allem auf das Können der Piloten an. Zur Vorbereitung hat die Ukraine aber Dutzende russischer Radarstationen zerstört und Überwachungs-Flugzeuge des Typs A50 „Mainstay“ abgeschossen, zudem das einzige Herstellungswerk für Radarflugzeuge zweimal mit Drohnen angegriffen. Russland soll die Fähigkeit genommen werden, den Anflug der F-16 zu beobachten.

Verhandlungen

Bisher lehnt Russland alle Verhandlungen ab. Formell werden die ab und zu angeboten, die Voraussetzung ist aber für Russland die vorherige Kapitulation der Ukraine und der Ausschluss der östlichen Mitglieder aus der NATO. Darauf lassen sich weder die Ukraine noch die NATO ein. Die Ukraine dagegen fordert als Voraussetzung den Rückzug der russischen Armee nach Russland, worauf Russland sich nicht einlassen will.

Allerdings gibt es weitere Friedensverhandlungen, als nächstes in der Schweiz. Und es werden „kleine“ Gespräche zwischen Russland und der Ukraine vermittelt, da sind Deutschland, Frankreich und die Türkei aktiv. Die Ukraine könnte ihre Position ändern, wenn die Bevölkerung das zulässt - das ist zur Zeit nicht absehbar.

Russland ist an der Grenze seiner Leistungsfähigkeit, nur durch Lieferungen aus Nordkorea und Iran am Leben gehalten. Der Iran lässt sich in Gold bezahlen. Da reichen die russischen Vorräte noch ein paar Jahre, allerdings hinterlässt Putin seinen Nachfolgern ein ruiniertes Land. In diesem Jahr gehen 70 Prozent des russischen Staatshaushaltes in den Krieg, die Kürzungen bei Gesundheit, Sozialausgaben oder Bildung sind für alle sichtbar.

Die NATO könnte Russland zu Verhandlungen bringen, indem sie die Ukraine entschlossen unterstützt oder das zumindest androht. Man erkennt an der russischen Propaganda, wie viel Angst Putin vor den Taurus-Marschflugkörpern hat. Die Lieferung könnte dafür sorgen, dass die Nachschublinien der russischen Armee nachhaltig gestört werden - Putin hat ja am 24. Juni 2023 ernsthaft verhandelt, als die Wagner-Söldner kurz vor Moskau standen. Auf Druck reagiert er, auf Vorschläge nicht. Jede Verzögerung von diskutierten Lieferungen bestärkt Putin in seiner Ablehnung von Verhandlungen. Das ist auch der Grund, weshalb AfD und BSW die Lieferungen verzögern wollen.

Die NATO hat die dreißigfache Kapazität beim Produzieren, sie könnte die Ukraine jederzeit innerhalb weniger Monate so ausstatten, dass die Ukraine gewinnt. Das sehen auch die russischen Kriegsberichterstatter so. Das Anbieten von Verhandlungen passiert monatlich und ist vergeblich. Erzwingen könnte die NATO Verhandlung jederzeit.

Zukunft der Flüchtlinge

Mehr als sechs Millionen Flüchtlinge haben das Land verlassen. Viele wollen nach eigenem Bekunden zurückkehren, aber je länger sie hier leben, desto unwahrscheinlicher wird das.

Die Aufenthaltserlaubnisse reichen bis Anfang März 2025 und können nach gegenwärtigen Wortlaut des Gesetzes nicht verlängert werden. Es ist also leicht erklärbar, warum sie schwer in Arbeit oder Ausbildung zu bringen sind.

Deutschland müsste einfach die Westbalkan-Regelung auf die Ukraine ausdehnen - für Moldau oder Georgien haben Bundestag und Bundesrat das ja schon vorgeschlagen. Westbalkan-Regelung bedeutet, dass die Flüchtlinge mit dem Arbeitsvertrag einen neuen Aufenthaltstitel bekommen, der verlängert wird bis zu einer späteren Einbürgerung. So gewinnen beide: Deutschland benötigt weniger Bürgergeld, die Flüchtlinge bekommen mehr Sicherheit.

Zwei Drittel der Ukrainer:innen hier stammen aus den russisch besetzten Gebieten. Dort hat die russische Armee alles zerstört, auch nach einer theoretischen Befreiung ist eine Rückkehr für Jahre nicht möglich. Diese Realität sollte Deutschland endlich anerkennen.

Reinhard Pohl

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