(Gegenwind 122, November 1998)

Militärjustiz im Zweiten Weltkrieg

Die Hinrichtung des Soldaten Friedrich Rainer, 20 Jahre alt

Die Rolle der Wehrmacht kritisch zu beleuchten ist das Thema der demnächst in Kiel gezeigten Ausstellung. Es lohnt sich aber auch, einen genaueren Blick auf die Militärjustiz im Zweiten Weltkrieg zu werfen. Der Rechtshistoriker Klaus Bästlein hat sich mit diesem Thema auseinandergesetzt und festgestellt, dass in der Zeit von 1933-45 vor den Kriegsgerichten mindestens 20.000 Wehrmachtsangehörige wegen "Fahnenflucht", "Wehrkraftzersetzung" oder "Feigheit" zum Tode verurteilt worden sind.

Das Besondere an den Kriegsgerichtsverfahren war, dass die Abgeurteilten der Entscheidung ausgeliefert waren, für sie gab es keine Möglichkeiten der Berufung oder der Revision.

Bei den Opfern der Wehrmachtsjustiz, so fand Bästlein heraus, handelte es sich um Soldaten, die dem Trommelfeuer des Fronteinsatzes nicht mehr gewachsen waren, die das Hitlerregime kritisierten oder keinen Sinn mehr in der Fortsetzung des Krieges sahen. Viele konnten sich einfach nicht von der Verlobten oder Freundin trennen, andere hielten die Schikane der Vorgesetzten nicht aus, nicht wenige waren aber auch kriminell oder milieugeschädigt.

Klaus Bästlein hat das Kriegsgerichtsverfahren gegen den Marine-Grenadier Friedrich Rainer genauer recherchiert, weil darin besonders deutlich wird, dass die meisten Opfer völlig unvorbereitet in das Räderwerk einer Justiz gerieten, die keine Gerechtigkeit kannte.

Friedrich Rainer kam aus München, hatte nach einer schwierigen Kindheit Tischler gelernt und sich 1942 mit 17 Jahren freiwillig zur Kriegsmarine gemeldet. Von Beginn an gab es Schwierigkeiten mit der militärischen Disziplin, es folgten Verurteilung und Arrest. 1945 kam Rainer zum Marine-Grenadier-Regiment Hartmann, das in Husum stationiert war. Hier verliebte er sich und verließ die Kaserne, um mit seiner Freundin zusammen zu sein. Dafür wurde er mit einem verschärften Arrest von 21 Tagen bestraft. Während eines Bombenalarms hatte ein Mitgefangener die Idee zu fliehen. Rainer machte mit, und beide liefen zu Fuß nach Flensburg. Dort trennten sie sich kurze Zeit später, weil der Kamerad über die Grenze ins sichere Dänemark wollte, wo er einen Monat später die Befreiung erleben konnte. Friedrich Rainer blieb auf der deutschen Seite und fragte bei verschiedenen Bauernhöfen nach Arbeit. Eine Bäuerin schöpfte Verdacht, weil er keine Papiere bei sich hatte, sie denunzierte ihn, er wurde festgenommen. Das war am 4. April 1945, an Friedrich Rainers zwanzigstem Geburtstag.

Nun wusste zunächst keiner so recht, was er mit dem Deserteur machen sollte, bis der höchste Wehrmachtsbefehlshaber an der Westküste eine Woche später verfügte, Friedrich Rainer vor das Kriegsgericht mit Sitz in Westerland auf Sylt zu stellen. Dorthin wurde der junge Soldat schließlich, von zwei Soldaten bewacht und mit Handschellen gefesselt, überführt. Der Marinekriegsrichter Walter Muysers war Vorsitzender des Verfahrens, Hermann Buggele Anklagevertreter. Beide galten nicht als fanatische Nazis, gehörten offenbar nicht einmal der NSDAP an. Dennoch machten sie gemeinsam mit einem Leutnant und Obergefreiten als Beisitzer mit dem Angeklagten Friedrich Rainer einen "kurzen Prozess".

Im Namen des Volkes wurde Rainer im April 1945 zum Tode verurteilt. In der Urteilsbegründung ging das Gericht nicht auf Rainers schwierige Kindheit ein; es blieb unerwähnt, dass die Flucht nicht seine Idee war und er in Deutschland blieb, während sein Freund über die Grenze geflohen war - alles Gründe, die auf eine unüberlegte Tat aus jugendlichem Leichtsinn hinwiesen, die man juristisch nicht als "Fahnenflucht", sondern als "unerlaubtes Entfernen" hätte werten können. Dann wäre selbst nach damaliger Rechtslage ein Todesurteil nicht auszusprechen gewesen. In der Begründung heißt es stattdessen: "Wir leben in Krisenzeiten. Härteste Anforderungen werden an alle gestellt, ob alt oder jung. Höchste Opfer werden gefordert. Wenn in solchem Zeitpunkt ein Feigling sich dem Einsatz entzieht, kann es darauf nur eine Antwort geben: die Todesstrafe."

Der Termin für die Hinrichtung wurde auf den 16. April um 6 Uhr 30 festgelegt. Da setzte die Rote Armee zur Großoffensive mit dem Ziel der Eroberung Berlins an, die amerikanischen Truppen rückten nach Leipzig vor, die Briten hatten einen Tag zuvor das KZ Bergen-Belsen befreit, die ersten Berichte darüber gingen um die Welt. Auf Sylt aber wurde Friedrich Rainer gefesselt auf den Richtplatz in einer Dünensenke südlich von Westerland geführt und erschossen.

Den Recherchen von Klaus Bästlein zufolge war dieses Todesurteil nicht nur juristisch höchst zweifelhaft, seine Vollstreckung hätte ohne Schwierigkeiten verhindert werden können. Aber den Westerländer Marinerichtern kam es offenbar darauf an, abzuschrecken, zu disziplinieren und die vielbeschworene "Manneszucht" in der militärisch längst aussichtslosen Situation aufrecht zu erhalten.

Es war nicht die letzte Hinrichtung auf der Insel Sylt. Mit vertauschten Rollen, Buggele als Vorsitzender und Muysers als Anklagevertreter, verhängten die beiden gegen den aus Westfalen stammenden Seemann Paul Fromme und den österreichischen Arbeiter Franz Kwapil wegen "Fahnenflucht", "Wehrkraftzersetzung" und "Diebstahls" noch am 23. April 1945 Todesurteile.

Nach der Kapitulation der deutschen Wehrmacht am 8. Mai 1945 blieben die Kriegsrichter unbehelligt. Trotz der hohen Zahl der von ihnen verhängten Todesurteile galten die Juristen in der britischen Zone als "unbelastet", so dass einige von ihnen steile Nachkriegskarrieren machen konnten: Hans-Karl Filbinger wurde Ministerpräsident in Baden-Württemberg, Bernhard Lewerenz wurde Justizminister, Hartwig Schlegelberger Finanz-und später Innenminister in Schleswig-Holstein. Sie alle waren als Kriegsrichter an Todesurteilen beteiligt gewesen. Bis heute ist kein einziger ehemaliger Kriegsrichter rechtskräftig verurteilt worden, bis in die achtziger Jahre war sogar das öffentliche Bild noch geprägt von der Militärjustiz als Hort der Rechtsstaatlichkeit innerhalb der Nazi-Diktatur. Erst der Hildesheimer Amtsrichter Ulrich Vultejus begann die kritische Auseinandersetzung mit der Militärjustiz.

Helmuth Wlazik



Klaus Bästlein: Die Hinrichtung des Friedrich Rainer im April 1945 auf Sylt. Zur Rolle der deutschen Militärjustiz im Zweiten Weltkrieg.
Sonderdruck aus: Grenzfriedensheft, Heft 3, Flensburg, September 1989.


Zusammenstellung von Gegenwind-Artikeln (1998/99) zur Ausstellung "Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941-1944" im Kieler Landeshaus als PDF-Datei (ca. 730 KB).

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