(Gegenwind 122, November 1998)

Traditionsverständnis der Bundeswehr

"...nicht hinter den Leistungen der Wehrmacht zurückstehen"

Wer nach dem Traditionsverständnis der Bundeswehr fragt, dem bietet zunächst die entsprechende Pressemappe des Bundesministeriums der Verteidigung (BMVg) einen Einstieg. In der Internet-Darstellung sind die Ausführungen zum derzeit gültigen Traditionserlass von 1982 - nicht zufällig - eingerahmt von zwei Reden Volker Rühes: Eine hielt er im Dezember 1997 anlässlich der Bundestagsdebatte zum Vortrag des Neonazis Manfred Roeder an der Führungsakademie der Bundeswehr im Jahre 1995; die andere im Rahmen der Aktuellen Stunde des Bundestages über die Ausstellung "Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941-1944" im März desselben Jahres.

Im Vorwort zum BMVg-Erlass vom 20. September 1982 heißt es u.a.: "Maßstab für Traditionsverständnis und Traditionspflege in der Bundeswehr sind das Grundgesetz und die der Bundeswehr übertragenen Aufgaben und Pflichten." Unter Punkt I/6 ist zu lesen: "Die Geschichte deutscher Streitkräfte hat sich nicht ohne tiefe Einbrüche entwickelt. In den Nationalsozialismus waren Streitkräfte teils schuldhaft verstrickt, teils wurden sie schuldlos missbraucht. Ein Unrechtsregime, wie das Dritte Reich, kann Tradition nicht begründen." Dies ist die Formel, die von der Bundeswehr gepflegt wird, so etwa von Volker Rühe auf der Wehrkundetagung 1995 in München: "Die Wehrmacht war als Organisation des Dritten Reiches, in ihrer Spitze, mit Truppenteilen und mit Soldaten in Verbrechen des Nationalsozialismus verstrickt. Als Institution kann sie deshalb keine Tradition begründen. Nicht die Wehrmacht, aber einzelne Soldaten können traditionsbildend sein - wie die Offiziere des 20. Juli, aber auch wie viele Soldaten im Einsatz an der Front."

Im ersten Traditionserlass vom 1. Juli 1965 war selbst das Wort "Wehrmacht" noch vermieden worden. Dies entsprach dem allgemein positiven Bild der Wehrmacht, das in der Gesellschaft der Bundesrepublik schon bei Gründung der Bundeswehr zehn Jahre zuvor vorhanden war. "Längst", so der Militärhistoriker Wolfram Wette, "hatte man sich angewöhnt, in Bezug auf die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse von »Siegerjustiz« zu sprechen und die verurteilten Wehrmachtsgeneräle als »sogenannte Kriegsverbrecher« zu bezeichnen."(1) Zwar fand der Erlass lobende Worte für die Beteiligten des 20. Juli 1944; dies wurde von der großen Mehrheit der ehemaligen Wehrmachtssoldaten allerdings abgelehnt.

Schon kurz nach der Befreiung vom Faschismus und der militärischen Niederlage der Wehrmacht fanden sich ehemalige Soldaten der Wehrmacht und der SS in einer Vielzahl von Traditionsverbänden zusammen. An deren Spitze standen meist hochrangige Offiziere der Wehrmacht oder der SS, von denen nicht wenige wegen Beteiligung an Kriegsverbrechen zu langjährigen Haftstrafen verurteilt, jedoch bereits Anfang der fünfziger Jahre aus der Haft entlassen worden waren. Hierzu gehörten beispielsweise Generaloberst a.D. Hans von Salmuth, Vorsitzender des "Verbandes deutscher Soldaten", oder SS-Brigadeführer Kurt Meyer im Vorstand der SS-Nachfolgeorganisation HIAG. Generaloberst Hans Reinhardt, im Prozess gegen das Oberkommando der Wehrmacht in Nürnberg wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen zu 15 Jahren Haft verurteilt, wurde bald nach seiner vorzeitigen Haftentlassung Vorsitzender der Gesellschaft für Wehrkunde und Herausgeber der Zeitschrift Wehrkunde.

Diese suchten systematisch Kontakt zur im Aufbau befindlichen Bundeswehr, wie die einem reaktionären Soldatenbild verpflichtete "Deutsche Militärzeitschrift" vermerkt: "Am Anfang suchten mehr oder weniger alle sich langsam nach dem Krieg bildenden Kameradschaften ehemaliger Wehrmachtseinheiten bei der Bundeswehr Truppenteile, bei denen sie für ihre Idee, die Tradition an ihre alten Einheiten wachhalten zu können, auf Gegenliebe stießen. Hier wurden dann auch Traditionsräume bzw. Flure und Treppenhäuser in den Kasernen oder Stabsgebäuden mit Vitrinen und Schaukästen eingerichtet." (DMZ 14, 1998).

Diese Kontaktaufnahme war um so leichter, als der größte Teil der Bundeswehrsoldaten noch aus der Wehrmacht stammte. Die offiziöse Militärzeitschrift "Europäische Sicherheit" fand es Anfang 1992 der Erinnerung wert, "dass die Gründerväter dieser Armee - die erste Generation der Truppenführer, Kommandeure und Einheitsführer - nahezu ausschließlich aus der deutschen Wehrmacht hervorgegangen sind... Sie waren aus der Wehrmacht hervorgegangen und nicht bereit, diese Herkunft zu verleugnen oder gar das Nest zu beschmutzen, aus dem sie kamen... So ist auch vieles von dem, was die Stärke der Bundeswehr... ausmachte und sie von fast allen Armeen in Ost und West unterschied, der unmittelbaren Überlieferung durch die aus der Wehrmacht hervorgegangenen Führergenerationen zu verdanken."

Bis heute bestehen enge Verbindungen der Bundeswehr zu den Traditionsverbänden. Ob der "Bund ehemaliger Stalingradkämpfer e.V. Deutschland" oder die "Ordensgemeinschaft der Ritterkreuzträger" - vielfältig sind die Gelegenheiten, bei denen Vertreter der Bundeswehr den "alten Kameraden" ihre Aufwartung machen; die Berichte in Zeitschriften wie "Soldat im Volk", "Kameraden" oder "Die Gebirgstruppe", um nur einige wenige zu nennen, legen hiervon jeden Monat beredtes Zeugnis ab.

Die "allgemeine, reaktionäre Ausrichtung der Truppe auf das Modell Wehrmacht" (Wette) prägte die Bundeswehr in ihren Grundstrukturen; die mit dem Begriff "Innere Führung" verbundenen Ansätze einiger liberaler Offiziere konnten sich in der Truppe ihrem Kerngehalt nach nie dauerhaft durchsetzen. Von Anfang an waren sie den Angriffen der militärischen Traditionalisten ausgesetzt.

Hierfür mag die sog. Schnez-Studie als Beispiel dienen. Mit der Unterschrift von Generalleutnant Albert Schnez, Inspekteur des Heeres, ging das zunächst als geheim geltende Papier im Juli 1969 in 30 Exemplaren an die Generale der Truppe. Als Produkt der Heeresspitze, mitverfasst von Generalmajor Grashey und den Brigadegenerälen Karst und Schall, dokumentierten diese "Gedanken zur Verbesserung der lnneren Ordnung des Heeres" die militär- und gesellschaftspolitischen Leitbilder fast der gesamten Führungsspitze des Heeres. In den insgesamt 87 Leitsätzen des Dokuments wurde nicht nur eine Einschränkung des Rechts auf Kriegsdienstverweigerung und verschärfter Drill für "böswillig renitente Soldaten" gefordert, sondern auch einem deutlichen Bekenntnis der politischen und militärischen Führung zur "deutschen Soldatentradition" das Wort geredet. Hierzu müsse auch die Förderung eines "verpflichtenden Traditionsbewusstseins" gehören: "Es müssen vermehrt soldatische Motive herausgestellt werden, die das Traditionsbewusstsein stärken..." Entsprechende Vorstellungen hatte Heinz Karst, Inspizient des Erziehungs- und Bildungswesens im Heer, wiederholt an anderer Stelle formuliert. In den von ihm verantworteten Unterlagen für die Lehrpraxis an den ihm unterstellten Schulen der Bundeswehr wird der "fast planmäßige Abbau des Geschichtsbewusstseins in unserem Volk" ebenso beklagt wie eine fortdauernde Verzerrung der historischen "Leistungen unseres Volkes". Nicht so bei Karst; er spricht nicht von der Luftwaffe der ehemaligen Wehrmacht, sondern von "unserer Luftwaffe", "unserer Kriegsführung" und "unserer besonderen Stärke" und verknüpft mit dieser distanzlosen Identifikation die Bundeswehr nahtlos mit der Wehrmacht.

Eine offensive Kritik an der Wehrmacht hatte es auch von den "Reformern" um General Baudissin nicht gegeben; von den Kriegsverbrechen und der Beteiligung der Wehrmacht an ihnen und von der Tatsache, dass die Vernichtungslager weiter betrieben werden konnten, solange die Front hielt, war nicht die Rede. Statt dessen war man bemüht, mit dem Bezug auf den militärischen Widerstand gegen den Nationalsozialismus eine andere Traditionslinie aufzubauen. Für diese steht inzwischen die vom BMVg in Auftrag gegebene Wanderausstellung "Aufstand des Gewissens. Militärischer Widerstand gegen Hitler und das NS-Regime 1933-1945". Im Mittelpunkt der Bezugnahme steht dabei das gescheiterte Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944. Diese Bundeswehrausstellung war beispielsweise in Frankfurt auf Initiative von CDU und FDP zu sehen gewesen - quasi als Gegenstück zur Ausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung, die dort kurz vorher gezeigt worden war. Diese Bundeswehrausstellung verschweigt bzw. bagatellisiert, dass eine beträchtliche Anzahl derjenigen, die am 20. Juli mitgewirkt und dabei vielfach ihr Leben geopfert haben, zuvor am Rassenvernichtungskrieg teilgenommen, ihn jedenfalls streckenweise gebilligt und in einigen Fällen aktiv vorangetrieben haben. In vielen Fällen waren es auch keine demokratischen Motive, die zur Tat führten, sondern die Sorge um den territorialen Fortbestand Deutschlands bzw. den Zustand der Armee.

Über die zahllosen antifaschistischen WiderstandskämpferInnen aus der Arbeiterbewegung, deren Widerstand weitaus prinzipiellerer Natur und auch zahlenmäßig bedeutsamer war als der der Oberschichten des Heeres und der Bürokratie, schweigt sich die Bundeswehr noch immer weitgehend aus; oder sie diffamierte sie - wie im Handbuch "Innere Führung" als "Menschen unlauterer Gesinnung und fragwürdiger Zielsetzung, die es selbstverständlich - wie auf der anderen Seite - auch im Widerstandslager gab."(2) Eine Würdigung und positive Bezugnahme auf Formen des militärischen Ungehorsams jenseits des Elite-Widerstandes - Stichwort: Deserteure - hat die Bundeswehr bis heute gescheut.

Zwar heißt es im Traditionserlass, dass "politisch-historische Bildung entscheidend zur Entwicklung eines verfassungskonformen Traditionsverständnisses (beiträgt)"; in der aktuellen Handreichung "Pausengespräche. Politische Bildung in Stichworten", erarbeitet vom Generalstabsoffizier Rainer Oestmann, tauchen die Stichworte Tradition oder Wehrmacht allerdings nicht einmal auf, so dass von einer nicht auf der Eigeninitiative einzelner Offiziere beruhenden Bildungsarbeit über die Verbrechen der Wehrmacht in der Bundeswehr kaum gesprochen werden kann. Als ein Bundeswehroffizier anlässlich der Diskussionen um die Ausstellung "Vernichtungskrieg. Verbrechen der Werhrmacht 1941- 1944" in der Zeitschrift "Truppenpraxis/Wehrausbildung" auf die stattliche Liste der Kriegsverbrecher hinwies, die in den Reihen der Wehrmacht tätig waren, hagelte es Proteste.

In den Richtlinien zum Traditionserlass von 1982 heißt es unter Ziffer III/29 "Kasernen und andere Einrichtungen der Bundeswehr können mit Zustimmung des Bundesministeriums der Verteidigung nach Persönlichkeiten benannt werden, die sich durch ihr gesamtes Wirken oder eine herausragende Tat um Freiheit und Recht verdient gemacht haben." Zu "Persönlichkeiten" dieser Art haben die politische und militärische Führung der Bundeswehr seit jeher deutsche Militärs gezählt, die am imperialistischen Ersten Weltkrieg, in der Legion Condor auf Seiten der Franco-Faschisten und/oder am Vernichtungskrieg der Wehrmacht teilnahmen. (3) 1964/65 benannte die Bundeswehr knapp 30 Kasernen nach Helden des Wehrmacht, darunter General Dietl und Oberst Mölders. Im Tagesbefehl Görings vom 24. November 1941 zum Tod von Mölders hieß es: "So wird Oberst Mölders in der Luftwaffe wie in der Geschichte des deutschen Volkes bis in alle Ewigkeit fortleben. Sein Andenken soll uns stolze Tradition und stets Vorbild höchster militärischer Tugend sein.... Darum vorwärts, Kameraden, zum Endsieg im Geist unseres unvergesslichen Helden." Oberst Mölders ist für alle Teilstreitkräfte der Bundeswehr traditionswürdig.

Das gilt auch für August von Mackensen, der im Ersten Weltkrieg Giftgas einsetzte, später die Ermordung Erzbergers mit den Worten "den Schädling sind wir los" kommentierte und die versuchte Ermordung Hitlers am 20. Juli 1944 als "fluchwürdiges Attentat" verurteilte. Nach ihm sind mehrere Bundeswehrkasernen benannt.

In Schleswig-Holstein tragen beispielsweise in Rendsburg ("Rüdel") und Appen ("Marseille") Kasernen die Namen von Wehrmachtsangehörigen; bei den schwimmenden Einheiten wurde gerade der Zerstörer "Rommel" außer Dienst gestellt. Bundeswehreinrichtungen, deren Namensgeber aus der NS-Opposition kommen, sind auch im Norden deutlich in der Minderheit. In Husum wurde die Kaserne nach Julius Leber benannt, in Eckernförde gibt es den Kranzfelder Hafen.

Wo es in der Vergangenheit vereinzelt Bemühungen gab, Namensänderungen bei Kasernen durchzusetzen (z.B. bei der Füssener "Dietl-Kaserne"), sind diese von der Bundeswehr nicht unterstützt worden. Stattdessen wurden auch in jüngster Zeit Bundeswehr-Einrichtungen nach Helden des Nazi-Krieges benannt. So trägt das in Rostock stationierte Jagdgeschwader 73 seit Mitte September 1997 den Namen "Johannes Steinhoff". Dieser hatte dem NS-Staat bis zuletzt gedient, als Kommodore des Jagdgeschwaders 77, als Oberst und 1944 ausgezeichnet mit einem der höchsten Orden der Nazis. Dies stand - wie in vielen anderen Fällen - einer späteren Karriere in der Bundeswehr nicht im Wege. Er brachte es Ende der sechziger,Jahre bis zum Inspekteur der Bundesluftwaffe.

Die Truppe beruft sich in jüngster Zeit wieder ausdrücklich auf solche kriegserprobten Vorgänger, nachdem die letzten kriegsgedienten Soldaten in der Zeit zwischen 1985 und 1988 die Bundeswehr verlassen haben. Die deutsche Armee wolle "nicht hinter den Leistungen der Wehrmacht zurückstehen" - so zitiert zum Beispiel die Reservistenzeitschrift "loyal" Generalleutnant Werner von Scheven, Vizechef der in der ehemaligen DDR stationierten Bundeswehrtruppen am 3. Oktober 1990 in Straußberg. Ähnlich sieht man es bei den "alten Kameraden" in der "Deutschen Militärzeitschrift", denn auch "in der Bundeswehr" würde man "die Vorbildfunktionen, die wir in der Wehrmacht und vor allem in den militärischen Leistungen von einzelnen finden, in schwierigen Situationen brauchen, um für einen eventuell wirklichen Einsatz in einer scharfen kriegerischen Auseinandersetzung Maßstäbe setzen zu können" (DMZ 14/1998).

Wie die Bundeswehr in den letzten Jahren zunehmend kriegsfähig gemacht wird, so erfahren die "militärhandwerklichen Qualitäten" der Wehrmacht verstärkt Aufmerksamkeit. Das Kommando Spezialkräfte (KSK) der Bundeswehr hat bereits kurz nach seiner Gründung offiziell die Patenschaft für das Kameradenhilfswerk der ehemaligen 78. Sturm- und Infanteriedivision der Wehrmacht übernommen. Diese sog. Eliteeinheit war - daran hat kürzlich Tobias Pflüger von der Informationsstelle Militarisierung e.V. erinnert - auch an Verbrechen an der sowjetischen Zivilbevölkerung beteiligt.

Dass der Geist des militärischen Traditionalismus auch in der Bundeswehrspitze geteilt wird, hat ein Ende März 1998 in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" erschienener Aufsatz des Inspekteurs des Heeres, Generalmajor Jürgen Reichardt, deutlich gemacht. Auch darin wird mittels der Rekultivierung eines traditionalistischen Soldatenbildes rückwärtsgewandte Sinnstiftung betrieben und eine Orientierung auf die vorgeblich ewig gültigen soldatischen Tugenden vorgenommen.

Fabian Virchow


Anmerkungen:
(1) zit. nach Wette, Wolfram: Bilder der Wehrmacht in der Bundeswehr. In: Blätter für deutsche und internationale Politik 2/1998, S. 187.

(2) zit. nach Thielen, Hans-Helmut: Der Verfall der Inneren Führung. Frankfurt 1970.

(3) vgl. Knab, Jakob: Das Traditionsverständnis der Bundeswehr. Berlin 1995; Brieden, Hubert / Dettinger, Heidi / Hirschfeld, Marion: "Ein voller Erfolg der Luftwaffe". Die Vernichtung Guernicas und deutsche Traditionspflege. Neustadt 1997.


Zusammenstellung von Gegenwind-Artikeln (1998/99) zur Ausstellung "Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941-1944" im Kieler Landeshaus als PDF-Datei (ca. 730 KB).

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