(Gegenwind 172, Januar 2003)

EU-Gipfel-Proteste

Ungehorsame Tage in Kopenhagen

Gute Stimmung, große Entschlossenheit, buntes Spektrum: das kennzeichnete die Proteste gegen den EU-Gipfel von Kopenhagen. Drei Tage lang, von Donnerstag, den 12., bis Sonnabend, den 14. Dezember gingen bis zu 10.000 Menschen in der dänischen Hauptstadt gegen die Festung Europa und gegen neoliberale EU-Wirtschaftspolitik auf die Straße.

Am Bella Center, dem Ort des EU-Gipfels

Grenze

Während in der deutschen Tagespresse die Berichterstattung über den EU-Gipel (Osterweiterung, Beitrittsverhandlungen mit der Türkei) einen breiten Raum einnahm, die Proteste aber kaum erwähnt wurden, war es in Dänemark fast umgekehrt: Die Anti-EU-Aktionen fanden einen breiten und nicht grundsätzlich negativen Widerhall in den Zeitungen, selbst VertreterInnen radikalerer linker Gruppen wie Globale Rødder und sogar Avanti aus Norddeutschland wurden zitiert.

Kurz vor Druckbeginn hatten wir Gelegenheit, mit einem Aktivisten der Kopenhagen2002-Kampagne aus Schleswig-Holstein zu sprechen, der gerade aus Kopenhagen zurückgekehrt war und seine frischen Eindrücke schilderte (ein ausführlicherer Rückblick auf die Gipfelproteste ist für das nächste Heft geplant).

Bereits bei der Anreise der Schleswig-HolsteinerInnen fand die erste Aktion statt, nämlich am Grenzübergang bei Flensburg. Mit im selben Konvoi waren italienische AktivistInnen der Disobediente (die "Ungehorsamen", eine Gruppe aus dem Spektrum der Tute bianchi), die demonstrativ die extra zum EU-Gipfel wieder eingeführten Grenzkontrollen verweigern wollten. Nach einer kurzen Blockade und einigem Hin und Her schafften sie es tatsächlich, so durchzukommen, sie mussten lediglich ihre Pässe (oder was auch immer) kurz hochhalten.

Kurz nach der Ankunft zu später Nachtstunde in Kopenhagen hieß es dann jedoch für sechs der italienischen AktivistInnen "Endstation Knast": Bei einer Polizeikontrolle in der Stadt - ohne jeden Anlass - wurden sie in Gewahrsam genommen, weil sie sich angeblich geweigert hatten, sich auszuweisen. Die Festgenommenen berichteten jedoch später, sie seien bereits nach wenigen Sekunden festgenommen worden, bevor sie überhaupt Zeit gehabt hätten, ihre Papiere zu zücken. Zwei Tage lang blieben die Sechs im Gefängnis, bis zum Ende der Proteste. Es ist zu vermuten, dass es sich um eine gezielte Maßnahme gegen vermeintliche "Rädelsführer" der Aktionen handelt, zumal es ansonsten relativ wenig Festnahmen gab und in den anderen Fällen die Betroffenen nach kurzer Zeit wieder freigelassen wurden.

Nachdem die Festnahme der ItalienerInnen bekannt geworden waren, gab es in mehreren italienischen Städten umgehend spontane Sympathiekundgebungen für die Gefangenen vor dänischen Konsulaten, so zum Beispiel in Venedig, Rom, Mailand und Triest.

Schaumstoff

Die erste große Aktion in Kopenhagen fand dann am Freitag, dem 13. statt: In einem Akt massenhaften zivilen Ungehorsams zogen über tausend Menschen zum "Bella Center", wo der Gipfel stattfand, um dort einfach durch die Polizeiketten hindurchzugehen - so das erklärte Ziel. Etliche AktivistInnen hatten sich in Disobediente-Manier mit Schaumstoff-"Rüstungen" gepolstert und trugen "Schilde" bei sich. Diese Aktion war von den OrganisatorInnen im Vorfeld öffentlich präsentiert worden. Zur Strategie gehörte es auch, sich strikt friedlich zu verhalten, auch bei Angriffen seitens der Polizei wollte man sich nicht wehren. Die Tausend zogen auf einer breiten Straße auf das Konferenzzentrum zu, die Medienaufmerksamkeit war riesig, allein etwa zwanzig Kamerateams waren anwesend. Der große Showdown blieb jedoch aus. Denn die Polizeiketten existierten schlichtweg nicht. Die Polizei hatte durch ein Absperrband das Ende der Demozone markiert und dahinter mehrere gepanzerte Polizeitransporter quergestellt.

Beim "Durchbrechen" der Polizeiabsperrung am Bella Center

Mit erhobenen Händen durchbrachen die Schaumstoff-Ritter an der Spitze des Zuges symbolisch das Absperrband, das war's dann aber auch, weiter ging's nicht. Viele TeilnehmerInnen waren unmittelbar danach unzufrieden und meinten, vom zivilen Ungehorsam sie nicht viel übrig geblieben, es habe sich nur um eine große Medienshow gehandelt. Andererseits ist das erreichte positive Medienecho ja nicht unbedingt etwas Schlechtes.

Am Freitagabend gab es dann eine antirassistische Demo mit etwa 4000 TeilnehmerInnen, die unter anderem in dänischer antifaschistischer Tradition in einem Fackelzug durch die Stadt demonstrierten. Den Abschluss bildete eine von Attac organisierte Performance des dänischen Performancekünstlers Jens Galschiot: Nightmare in Copenhagen.

Großdemo plus Knastdemo

Am Sonnabend fand die große Abschlussdemo mit zehntausend TeilnehmerInnen statt. Neben vielen TeilnehmerInnen aus dem Spektrum der dänischen sozialistischen Enhedslisten und einem anarchistisch-autonomen Block war unter anderem auch ein Disobediente-Block dabei, in dem sich Menschen aus unterschiedlichen Ländern und Organisationszusammenhängen sammelten. Des weiteren gab es einen Frauenblock, einen Block von jugendlichen Protestierern aus Skandinavien und weitere. Die Demo deckte inhaltlich ein breites Themenspektrum ab, ohne einen klaren Schwerpunkt zu haben, die TeilnehmerInnen trugen aber viel Power und Entschlossenheit auf die Straße.

Im Anschluss an die Großdemo machte der anarchistische Block - wie vorher geplant - dann noch seine eigene Demo gegen den "Polizeistaat Europa". Und der Disobediente-Block zog mit etwa tausend Leuten spontan zum Knast, wo noch immer die sechs italienischen Genossen saßen, und veranstaltete eine lautstarke Soli-Kundgebung. Hierbei, wie auch am ganzen Demo-Tag hielt sich die Polizei relativ stark zurück, abgesehen von der penetranten Präsenz "autonom" gekleideter Zivilpolizisten am Rande der Demo.

Themen

Inhaltlich nahmen die Proteste überwiegend Bezug auf die Themenbereiche Migration/Flüchtlingsabwehr/Festung Europa, auf die EU als neoliberales Projekt und natürlich auf den drohenden Krieg der USA gegen den Irak. Der Bereich Israel/Palästina spielte - anders als zuvor befürchtet - praktisch keine Rolle, auch wenn vereinzelt Palästina-Flaggen zu sehen waren. Im Vorfeld gab es insbesondere zwischen dänischen und deutschen linken Gruppen Auseinandersetzungen um mögliche anti-israelische Aktionen im Rahmen der Gipfelproteste.

Das Thema Sicherung der Außengrenzen/Flüchtlingsabwehr war auch ein Thema des EU-Gipfels. Aber auf die dominierenden Gipfel-Themen (EU-Erweiterung) wurde bei den Protesten kaum Bezug genommen.

Ein massenhaftes "Gipfelhopping" war nicht festzustellen, denn die weitaus überwiegende Zahl der Prostestierenden kam aus Dänemark und den benachbarten skandinavischen Ländern, hingegen waren insbesondere aus südeuropäischen Ländern nur wenige TeilnahmerInnen auszumachen. Das zeigt, dass die EU-Gipfel-Proteste auch ein Kristallisationspunkt der linken Bewegungen im Land gewesen sind, und dass die EU-Kritik eine breite Basis gerade in der skandinavischen Linken hat. Bemerkenswert ist außerdem, dass sich jenseits der bekannten Spektren und Blöcke unter dem Banner "Disobediente" recht viele Menschen aus verschiedenen Ländern mit unterschiedlichem politischen Background zusammentaten und zu entschlossenem Auftreten in der Lage waren.

Erstes Fazit unseres Korrespondenten: gute Stimmung, viele junge AktivistInnen und eine große Entschlossenheit auch bei der Großdemonstration am Sonnabend. Das nächste Mal gibt es dann vielleicht auch wieder etwas mehr Ungehorsam.

H.H.

Weitere Infos: www.kopenhagen2002.de

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