(Gegenwind 181, Oktober 2003

Bad Segeberg

Aktive Jugendliche in der Jüdischen Gemeinde

Sukkotfest 2002. Rabbiner Walther Rothschild mit Jugendlichen im Marienkindergarten in Segeberg

Sukkotfest 2002. Rabbiner Walther Rothschild mit Jugendlichen im Marienkindergarten in Segeberg

Anfang 2002 wurde in Bad Segeberg eine jüdische Gemeinde gegründet. Sie unterscheidet sich von den Gemeinden in Kiel und Lübeck dadurch, dass sie nicht Bestandteil der Jüdischen Gemeinde Hamburg ist. Als progressive Gemeinde gehört sie der "Union Progressiver Juden in Deutschland" an. Sie hat einen Landesverband Jüdischer Gemeinden von Schleswig-Holstein gegründet, der nicht nur progressiven, sondern auch orthodoxen Gemeinden offen steht. Im Sommer 2003 verfügte die Gemeinde über 120 Mitglieder und eine eigene Thorarolle. Und zum ersten Mal seit der Nazidiktatur erwarb eine jüdische Gemeinde wieder Grund und Boden: Für (symbolische) 3350 Euro kaufte sie die "Lohmühle" in Bad Segeberg, wo auf 3350 Quadratmetern eine Synagoge, aber auch Räume für Jugendarbeit entstehen sollen. Denn die Gemeinde verfügt über eine sehr aktive Jugend.

Mitte September traf ich acht Jugendliche und Kinder der jüdischen Gemeinde Segeberg. Mascha, 14 Jahre alt, erläutert, dass sie als Jugendliche mithelfen, wenn Feste gefeiert werden, ebenso helfen sie beim monatlichen Gottesdienst. Sie haben auch durchgesetzt, dass am 6. Dezember die Bat Mitzwa gefeiert wird, vergleichbar vielleicht mit der Konfirmation in der evangelischen Kirche. Dazu gehen die 12- und 13-jährigen Mädchen seit fast zwei Jahren eifrig zum Unterricht, den eine Studentin aus Berlin erteilt. Sie macht dort ihre Ausbildung zur Rabbinerin, aber einmal im Monat unterrichtet sie in Bad Segeberg. Unterrichtsstoff ist Hebräisch, das Lesen in der Thora und alle Aspekte des jüdischen Glaubens: Die Beschneidung, die Hochzeit, Tod und Beerdigung, die Feste und Feiertage werden genauso durchgenommen wie die Speisevorschriften, ebenso werden die Gebete gelernt.

Sarah erzählt mir ausführlich von dem Morgengottesdienst, der an jedem 1. Samstag im Monat gefeiert wird. Dazu wird noch ein fremder Raum genutzt, aber alle sind optimistisch, schon bald im eigenen Haus feiern zu können. Die Gemeinde hat kaum Geld, und Renovierung sowie Umbau der Lohmühle würden normalerweise 1,5 Millionen Euro kosten. Aber einige Arbeiten sind schon gemacht, ein Architekturbüro arbeitet kostenlos, ein großer Teil der Planungen entstand als Diplomarbeit an der Fachhochschule Lübeck ebenfalls ohne Kosten für die Gemeinde.

Sarah erzählt weiter, dass ein Teil der Arbeit der Gemeinde auch darin besteht, neu ankommenden Migrantinnen und Migranten zu helfen. Ein Manko der Jugendlichen dabei ist, dass sie bis auf eine Ausnahme kein Russisch können, während fast alle neu ankommenden Gemeindemitglieder hauptsächlich Russisch und kaum Deutsch sprechen. Sarah selbst hat auch mitgearbeitet an der Erforschung der jüdischen Gemeinde in Bad Segeberg vor dem Zweiten Weltkrieg, den fertigen Beitrag haben die Jugendlichen bei einem Geschichtswettbewerb eingereicht.

Katja ist die einzige in der Runde, die fließend Russisch spricht. Sie hat gemeinsam mit anderen einen Fragebogen entwickelt und dann ungefähr 50 Interviews mit MigrantInnen gemacht. Fast alle kamen aus den Staaten der ehemaligen Sowjet­union, aber es ist auch eine Familie dabei, die aus Israel ausgewandert ist sowie eine aus den USA. Mit den Interviews wollte sie feststellen, wie viel die Neuankömmlinge über den jüdischen Glauben und jüdisches Leben wissen, ob sie die Feiertage und die Speisevorschriften kennen und, ganz wichtig, was sie von der jüdischen Gemeinde vor Ort erwarten. Die wichtigste Erwartung ist, wenig überraschend, dass alle hoffen, dass die Gemeinde bald eigene Räumlichkeiten für ein wirkliches Gemeindeleben hat. Einige erhoffen sich auch ganz praktische Hilfe in Alltag, also Hinweise auf Deutschkurse, Informationen über freie Wohnungen oder Unterstützung bei der Suche nach Arbeit.

Die Kinder und Jugendlichen der Jüdischen Gemeinde beim Gespräch mit dem Gegenwind

Die Kinder und Jugendlichen der Jüdischen Gemeinde beim Gespräch mit dem Gegenwind

Alle sind für die Gemeinde aktiv. So berichten alle, dass sie in ihren eigenen Schulklassen, aber teilweise auch in anderen Klassen über den jüdischen Glauben erzählen. Einerseits ist es für die Religionslehrer einfacher, wenn sie Schülerinnen und Schüler haben, die alles aus eigener Praxis berichten können, und die jüdischen Kinder und Jugendlichen wollen selbst auch, dass andere mehr über ihren Glauben erfahren, möglichst aus erster Hand.

Mascha und Katja haben sich darüber hinaus im Frühjahr gemeldet, als bekannt wurde, dass die Anne-Frank-Ausstellung in Bad Segeberg gezeigt werden soll. Sie fuhren beide zu einem Seminar nach Berlin und wurden ausgebildet, um Führungen für Schulklassen zu leiten. Mehrere Schulklassen haben unter ihrer Führung die Ausstellung besucht, und manche Kontakte blieben bis heute.

Ansonsten nutzen die Jugendlichen und die Kinder viele andere Möglichkeiten, die jüdische Gemeinde bekannt zu machen. Patricia und Niclas kommen Hauptrollen bei den jährlichen Purimfest-Aufführungen in Bad Segeberg zu. Sehr beliebt bei anderen Kindern sind die Stände, die Hanna, Vicky und Rebecca zum Beispiel beim Kulturfest oder am Israel-Tag aufbauten und an denen andere Kinder lernen, ihren Namen in hebräischen Buchstaben zu schreiben.

Die Jugendlichen haben noch viel vor. Im neuen Gemeindezentrum wollen sie ein Jugendcafé eröffnen, das dann allen Jugendlichen der Umgebung offen steht. Wann es eröffnet wird? Wenn es nach den Jugendlichen geht, sofort. Aber das hängt hauptsächlich davon ab, wie viel Unterstützung und Spenden die Gemeinde bekommt.

Reinhard Pohl

Spenden: Jüdische Gemeinde Segeberg, Kreissparkasse Segeberg (BLZ 230 510 30), Konto 722 49, "Jüdisches Gemeindezentrum".
Internet: www.lvjgsh.de

Ein Info-Faltblatt der Jüdischen Gemeinde Bad Segeberg (Beilage zum Gegenwind 181) kann bei der Redaktion angefordert werden.

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