(Gegenwind 194, November 2004)

Türkei - EU-Beitritt - Menschenrechte: Ein Fallbeispiel

"Solche Schikanen werden systematisch eingesetzt"

Gegenwind:

In Deutschland gibt es eine lebhafte Diskussion über einen EU-Beitritt der Türkei. Du kommst aus der Türkei und lebst in Deutschland. Kannst du dich zunächst vorstellen?

Filiz Bilgili

Filiz Bilgili:

Ich lebe seit neun Jahren in Kiel, bin Geophysikerin und schreibe zur Zeit an meiner Doktorarbeit im Fachbereich Geophysik.

Gegenwind:

Was ist das für ein Studium? Du pendelst ja zwischen Deutschland und der Türkei, was musst du hier und dort machen?

Filiz:

Ich bin in der Arbeitsgruppe Ingenieurgeophysik. Wir helfen den Archäologen mit unseren hochauflösenden Verfahren, die im Untergrund verborgenen Funde zu orten. Ohne zu graben, können wir zum Teil mit Dezimeter-Genauigkeit sagen, was wo und in welcher Tiefe zu finden ist, eine Art Tomographie der Erde. Wir haben verschiedene Forschungsprojekte in der Türkei laufen. Wir gewinnen dort Daten, die wir hier in Deutschland mit unterschiedlichen Verfahren weiterverarbeiten, für eine bessere Interpretation der archäologischen Fragestellungen oder, wie das bei mir der Fall ist, um neue Methoden zur Bearbeitung der Daten zu entwickeln. Ich habe an diesen Forschungsprojekten jahrelang mitgearbeitet, bis mir vor eineinhalb Jahren die Arbeitserlaubnis von den zuständigen türkischen Ministerien verweigert wurde.

Gegenwind:

Warum kann man dir als türkischer Staatsbürgerin das Arbeiten in der Türkei verbieten?

Filiz:

Den genauen Grund für meinen Fall kenne ich bis heute nicht. Aber solche Arbeitsverbote sind nicht selten in der Türkei. Als ich von dem Arbeitsverbot erfahren hatte, hat man mir empfohlen, das Problem mit Schmiergeld zu lösen. Meine Kolleginnen von einer türkischen Universität erzählten von einer Dozentin, die wegen ihrer politischen Aktivitäten in der Studentenzeit solche Schwierigkeiten bei ihrer Einstellung hatte, sie konnte sie auf diesem Weg lösen. Das kam für mich nie in Frage. Während der interkulturellen Wochen auf einer Veranstaltung hier in Kiel, wo es um den EU-Beitritt der Türkei ging, habe ich meinen Fall in die Diskussion eingebracht. Deshalb wurde ich vom Vertreter der türkischen Gemeinde kritisiert. Mein Fall sei ein Einzelfall und ich würde das fälschlicherweise verallgemeinern. Aber genau das glaube ich nicht. Fragt die Menschenrechtsvereine und Berufsverbände. Solche Schikanen werden systematisch eingesetzt, um regimekritische Menschen einzuschüchtern.

Gegenwind:

Was war bei dir der Grund für die Absage?

Filiz:

Es existiert ein Geheimdienstbericht. Ich vermute, dass dieser Bericht und das Arbeitsverbot mit einem Vortrag zusammenhängt, den ich nach dem Erdbeben in der Türkei hier in Kiel gehalten habe. Ich bin nach dem großen Erdbeben 1999 in die Türkei eingereist und habe bei der Hilfsgüterverteilung mit einer zivilen Organisation mitgeholfen. Nach meiner Rückkehr nach Deutschland berichtete ich bei einem Vortrag im Kieler Kulturzentrum Pumpe über meine Beobachtungen und habe fachlich und sachlich das Katastrophenmanagement und die Hilfsgüterverteilung kritisiert. Ich erzählte über kurdische Saisonarbeiter, die in Adapazari waren und keine Hilfe bekommen hatten. Die Bewohner dieser Stadt versuchten zu verhindern, dass wir "diesen Menschen" helfen, die wegen des Erdbebens nicht mehr arbeiten, aber auch nicht in ihre Heimat zurückfahren konnten. "Denen ging es ja auch vorher nicht besser", sagte man uns. Als ich das in der Pumpe erzählte, stand ein türkischer Junge auf, wollte meinen Vortrag abbrechen.

Gegenwind:

Hat er denn deine Darstellung der Behandlung von Wanderarbeitern bestritten? Oder war er dagegen, diese Frage zum Thema zu machen?

Filiz:

Das Wort "kurdisch" reichte ihm. Er sagte, ich wäre Separatistin und nütze diese Gelegenheit, um Propaganda gegen den türkischen Staat zu machen. Es gab dann noch einen Vorfall. Damals nahm ich es nicht ernst. Ein Mitarbeiter unserer Arbeitsgruppe wurde an der Universität von einem türkischstämmigen Mitarbeiter der Uni verbal angegriffen. Dieser Institutsmitarbeiter hat allerdings weder mit mir noch mit meinem Vortrag etwas zu tun gehabt, er war nicht mal in der Pumpe. Er wurde jedenfalls gefragt, wieso das Institut zulässt, "dass jemand wie ich reden darf, ob wir eine terroristische Organisation im Institut gegründet hätten, ob wir alle Landesverräter wären, ob ich zu einer bestimmten Organisation gehören würde". Mein Kollege war total erschrocken und verunsichert, als er nach diesem Angriff in unser Büro zurückkam. Er wollte wissen, was ich bei dem Vortrag erzählt habe.

Gegenwind:

Weißt du, wer dich hier aus Kiel denunziert hat?

Filiz:

Nein, ich habe aber starke Vermutungen. Eine Kampagne gegen mich in den Teehäusern, die ich mitbekam, und der Vorfall hier in der Uni sind Hinweise genug, dass mich türkische Nationalisten aus Kiel in Ankara verleumdet haben.

Gegenwind:

Was für ein System steckt dahinter? Sind das Privatleute, die freiwillig Berichte hinschicken? Oder ist es ein System von bezahlten Spitzeln?

Filiz:

Ich habe ein bisschen recherchiert. Aus Berichten von amnesty international und einem Antrag der PDS im Bundestag geht hervor, dass der türkische Geheimdienst hier in Deutschland zahlreiche Mitarbeiter unterhält. Auch für die politisch aktiven Menschen, mit denen ich über meinen Fall diskutiert habe, war das keine Neuigkeit. Es ist wohl bekannt. In meinem Fall war es vielleicht kein Mitarbeiter, sondern eine Vertrauensperson. Nach diesen Vorfällen im Jahr 1999 dachte ich, das sind einfach extrem rechte Türken, Nationalisten. Deswegen habe ich diese nicht ernst genommen. Jetzt weiß ich, dass das keine einfache Nationalisten sind. Sie sind in den türkischen Vereinen organisierte, hochangesehene Personen, die von deutschen und türkischen Seite als Ansprechpartner gesehen werden. Ich habe jetzt während der interkulturellen Wochen auf der Veranstaltung hier in Kiel, wo es um den EU-Beitritt der Türkei ging, die dortigen Vertreter der Türkischen Gemeinde angesprochen. Ich habe ihnen gesagt, dass sie für mich und die Leute, die ich erreichen kann, politisch verdächtige Vereine bleiben, solange sie sich von solchen nationalistischen Äußerungen nicht distanzieren. Hauptsächlich muss man aber diskutieren, wie der türkische Staat mit solchen Informationen umgeht. Ohne jegliche Erklärung, ohne eine Anhörung, ohne ein Gerichtsverfahren ein Arbeitsverbot zu verhängen, das ist das eigentliche Problem. Die Marionetten hier sind eher unwichtig

Gegenwind:

Wie ging es dann mit der Arbeitserlaubnis in der Türkei weiter?

Filiz:

Ich dachte zuerst, es sei eine Willkürentscheidung eines einzelnen Beamten in Ankara. Das gibt es manchmal, dass jemandem ein Name oder besonderes ein Geburtsort nicht gefällt, bei meinem Geburtsort Tunceli ist das oft der Fall. Aber im Sommer 2003 kam erneut eine Verweigerung meiner Arbeitserlaubnis.

Gegenwind:

Musstest du denn unbedingt in der Türkei forschen?

Filiz:

Ja. Ich hatte schon zwei Jahre in meine Doktorarbeit investiert. Um sie zu Ende zu bringen, brauchte ich noch Daten. Außerdem bin ich mit dem Ziel nach Deutschland gekommen, nach der Doktorarbeit in die Türkei zurück zu kehren. Auch prinzipiell kam ich damit nicht klar. Ich habe keinem Menschen etwas angetan, ich habe nicht vor, jemandem etwas anzutun. Nur wegen meinen Äußerungen und ohne rechtliche Grundlage so bestraft zu werden, das wollte ich mir nicht gefallen lassen!

Gegenwind:

Was hast du konkret unternommen?

Filiz:

Ich bin in die Türkei geflogen. Ich versuchte im Kulturministerium in Ankara Informationen zu bekommen. Sie taten so, als ob es um eine gefährliche Staatsfeindin ginge, ich bekam überhaupt keine Antwort. Im Außenministerium ging auch nichts. Ich bin Stipendiatin der Friedrich-Ebert-Stiftung, die vermittelte mir einen Anwalt, der gegen beide Ministerien klagte. Aber dann kam raus, dass auch das Innenministerium und das Amt des Präsidenten eine Rolle spielte. Wegen der Geheimdienstberichte mussten wir auch gegen die klagen. Ich war überzeugt davon, dass ich über diese Gerichtsverfahren etwas erreiche, ich wollte auch notfalls zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gehen. Es musste bloß schnell gehen, um die Arbeit fertig zu bekommen.

Zuerst hatte der Leiter unseres Instituts sich an die türkische Botschaft gewandt, es kam kein Ton. Deshalb wandte ich mich in Deutschland an mehrere Stellen, um auch politischen Druck auszuüben. Ich wandte mich an Torsten Döhring, den Referenten des Migrationbeauftragten des Landtages. Ich wandte mich an Claudia Roth, Cem Özdemir, Angelika Beer, Marie-Luise Beck. Die Büros von Roth und Beck zeigten großes Interesse, wandten sich auch wie Torsten Döhring an die türkische Botschaft. Döhring, Beck und Roth bekamen nie eine Antwort. Ich sprach die Frauenbeauftragte der Universität Kiel an. Sie schickte meine Unterlagen an die schleswig-holsteinische Justiz- und Frauenministerin Anne Lüttkes. Da das nicht in ihren Aufgabenbereich fiel, nahm Frau Lüttkes Kontakt zur Staatsministerin im Auswärtigen Amt Kerstin Müller in Berlin auf. Ich glaube, ausschlaggebend war ihre Anfrage bei der türkischen Botschaft. Erst danach gab es endlich eine Reaktion. Einen Tag nach der Reaktion der Botschaft auf Anfrage von Kerstin Müller rief mein Anwalt aus der Türkei an und sagte, das Innenministerium habe die Verweigerung der Arbeitserlaubnis zurück gezogen. Damit war auch das Gerichtsverfahren erledigt, das lief eigentlich noch.

Gegenwind:

Hattest du jemals Akteneinsicht?

Filiz:

Nein. Die Ministerien begründeten das Arbeitsverbot aber damit, dass ein Geheimdienstbericht über mich vorliegt, aus dem hervorgeht, dass ich Propaganda gegen den türkischen Staat betreibe. Mein Anwalt sagt, dass damit die Veranstaltung in der Pumpe gemeint ist. Ich hoffe, dass ich irgendwann eine Akteneinsicht bekommen kann. Das wird aber wohl noch dauern.

Gegenwind:

Gehört denn ein Staat wie die Türkei in die EU? Also ein Staat, der aufgrund einer kurzen Äußerung auf einer Veranstaltung einem Menschen Berufsverbot gibt?

Filiz:

Nein, natürlich nicht. Aber im Moment geht es ja nicht um einen Beitritt der Türkei, sondern um den Beginn der Verhandlungen. Es ist die Rede von zehn oder fünfzehn Jahren, da kann sich viel bewegen. Der Rahmen für einen Rechtstaat, Minderheiten- und Menschenrechte ist - mehr oder weniger - geschaffen. Wie mein Fall auch zeigt, es sind gravierende Probleme bei der Umsetzung. Alle Punkte, die von dem EU-Kommission angesprochen worden sind, sind sehr wichtig.

Besonders beim Kurdenproblem erwartet die Türkei wichtige Auseinandersetzungen. Schätzungsweise leben 20 Millionen Kurden in der Türkei. Für viele in der Türkei aber auch hier Deutschland gab es bis vor kurzem keine Kurden. Der Sprung von "Berg-Türken" zu einer Diskussion "Kurdisch als zweite Amtsprache" ist für viele zu viel. In der Türkei muss man mit den neuen Begriffe, die mit der Anerkennung der Minderheiten verbunden werden, erst klar kommen. Die Problematik der Aleviten als religiöse Minderheit wird auch in der Türkei diskutiert. Diese - ihre Zahl wird auf 15 Millionen geschätzt - haben neulich ein staatliches Amt für ihre religiöse Angelegenheiten verlangt. Das jetzige Amt ist nämlich ausschließlich für Sunniten da. Dem wurde nicht stattgegeben, jetzt wollen sie klagen und werden zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gehen.

Gegenwind:

Du darfst jetzt als Wissenschaftlerin alevitischer und kurdischer Herkunft wieder in der Türkei arbeiten, nachdem eine deutsche Staatsministerin sich für dich eingesetzt hat. Wie viel sind denn die Reformen in der Türkei wert, die für den EU-Beitritt durchgeführt wurden? Ist es nicht nur der äußere Druck, der etwas bewirkt?

Filiz:

Die Türkei hat wieder mal nicht geschafft, sich aus eigener Kraft nach vorne zu bewegen. Ausschlaggebend ist der äußere Druck, anders kann ich diese rasanten Veränderungen der AKP-Politiker und Politikerinnen nicht erklären (die AKP ist die islamistische Regierungspartei in der Türkei, Anm. d. Red.). Die Äußerungen des türkischen Ministerpräsidenten, der ja fast zum Djihad aufgerufen hat und wegen Volksverhetzung angeklagt war, liegen nicht so lange zurück. Vielen, auch mir, die mit der Ideologie dieser Regierung nicht klar kommen, fällt es schwer, diese Regierung zu unterstützen. Es ist aber eine Tatsache, dass die Türkei sich in Richtung Minderheitenrechte, Menschenrechte und Rechtstaat bewegt.

Die treibende Kraft ist die Wirtschaft. Aus wirtschaftlichem Interesse werden einige politische "Rückschläge" in Kauf genommen. Es ist bekannt, dass die Industrie- und Handelskammer der Türkei seit Jahrzehnten Druck auf die Politik ausübt, die politischen Probleme aus dem Weg zu schaffen, damit der Weg in die EU frei wird. Der innere Druck seitens prokurdischer und kleiner linken Parteien und Menschenrechtsvereine hat nicht viel bewegen können. Das hat mehrere Gründe, über die muss man vielleicht in einem anderen Rahmen diskutieren.

Gegenwind:

Hattest du nach türkischen Gesetzes das Recht, in der Pumpe über kurdische Saisonarbeiter zu berichten?

Filiz:

Mit den alten Gesetzen bin ich mir nicht sicher. Es gab so viele absurde Anklagen, wegen Äußerungen von Politikerinnen und Künstlerinnen, die sich in Europa und in der Türkei über die bestimmten kritischen Themen geäußert haben. Ein Beispiel: Ahmet Altan, ein Journalist, versuchte zu beschreiben, was sich ereignet hätte, wenn der "Vater der Türken" (Atatürk) ein Vater der Kurden "Atakürt" gewesen wäre. Ein brillanter Kommentar, in dem er die Türken zu einem Rollentausch einlädt, damit sie die Kurden-Problematik besser verstehen. Er hat damals seinen Job bei der Zeitung verloren und wurde angeklagt. Er wurde bestraft, hat aber beim Europäischen Gerichtshof dagegen geklagt und gewonnen.

Mit der neuen Gesetzgebung durfte ich mit Sicherheit frei sprechen, weil die sogenannten "Gesinnungsstraftaten" abgeschafft sind. Ich wurde ja nicht mal angeklagt, sondern einfach so bestraft. Ich glaube, das ist ein wichtiger Punkt. Diejenigen, die mich verleumdet haben oder in Ankara ein Berufsverbot verhängt haben, haben nicht gedacht, dass ich mich dagegen wehren werde. Die haben gedacht, dass ich das so hinnehme.

Gegenwind:

Werden türkische Gesetze nur angewendet, wenn eine deutsche Staatsministerin nachfragt?

Filiz:

So krass würde ich das nicht ausdrücken. Aber die türkischen BürgerInnen in der Türkei und anscheinend auch in Deutschland sind einer Willkür ausgesetzt, die man immer noch nur schwer bekämpfen kann. Ich hätte spätestens mit einer Anklage vor dem Europäischen Gerichtshof das Arbeitsverbot aus dem Weg geräumt. Der äußere Druck hat das ganze beschleunigt, würde ich sagen.

Gegenwind:

Bist du für eine Aufnahme der Türkei in die EU?

Filiz:

Ja, natürlich, weil ich die EU als eine Werte-Gemeinschaft betrachte und hoffe, dass diese Werte von der Türkei angenommen und, noch wichtiger, verinnerlicht werden. Keines der Themen, die von der EU-Kommission angesprochen worden sind, war für mich eine Überraschung. Die ganzen Punkte, die jetzt auf den Tisch kommen, sind schon seit drei Jahrzehnten Thema für einige Kreise in der Türkei. Die Vertreter der prokurdischen Partei, Menschenrechtsvereinen, die Vertreter der Aleviten und anderer Minderheiten kämpfen seit Jahrzehnten unermüdlich gegen Folter und für Menschenrechte und Minderheitenrechte. Seitdem der Bericht der EU-Kommission vorliegt, tun alle so, als ob in der Türkei alle politischen Probleme gelöst seien. Das ist nur der Anfang. Wenn dieser Prozess so läuft, wie er laufen sollte, hat die Türkei eine schwierige Zeit vor sich. Das Land muss sich mit der eigenen Geschichte auseinandersetzen. Die Türken, Kurden, Aleviten, alle in der Türkei müssen sich mit der eigenen Geschichte, mit Geschehnissen, die im letzten Jahrhundert passierten, konfrontieren, auseinandersetzen. Der Staat muss sich zu Verbrechen und Unrecht stellen und sich bei den Betroffenen entschuldigen und da, wo es möglich ist, entschädigen. Ein Satz ist mir in Erinnerung geblieben und ich finde ihn in diesem Zusammenhang sehr wichtig: "Eine stabile Demokratie braucht die Auseinandersetzungen mit der eigenen Vergangenheit ebenso wie die Erinnerung an die Bedingungen ihre eigene Herausbildung."

Dieser Prozess muss und wird in der Türkei stattfinden. Von Deutschland aus kann man nur intellektuelle Diskussionen führen. Aber selbst damit haben die türkischen Vereine Probleme. Solange deren Meinung aus Ankara oder Istanbul bestimmt wird, kann man hier keine gesunde Diskussionen führen. Als ich auf der Veranstaltung über den EU-Beitritt der Türkei in Kiel in der Diskussion die Kurden-Problematik und das Problem von Aleviten diskutieren wollten, meldete sich der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde zu Wort. Er wollte die Zuhörer davon überzeugen, dass die Kurden und Aleviten in der Türkei keine Probleme hätten. Ich nehme an, nach dem Bericht der EU-Kommission oder spätestens nachdem das Konsulat und die Botschaft hier einige Themen freigegeben haben, kann sich der Vorsitzende der türkischen Gemeinde in Kiel über diese neuen Themen auch äußern. Wenn die türkischen Vereine tatsächlich am Beitritt der Türkei interessiert sind, sollten sie versuchen, eine unabhängige Politik zu entwickeln, weg von offiziellen Darstellungen der Tatsachen über die Türkei. Sie sollten zum Beispiel oppositionelle türkische und kurdische Politiker einladen, die seit Jahrzehnten in der Türkei unermüdlich für die Werte kämpfen, die die türkische Gemeinde bald in den Mund nehmen darf. Sie sollten die erzählen lassen, was sie erlebt haben. Es gibt so viele, die ich vorschlagen könnte. Wenn ihnen Leyla Zana oder Eren Keskin zu radikal sind, dann Yasar Kemal oder Ahmet Altan.

Gegenwind:

Du kennst ja die Minderheitenpolitik hier in Schleswig-Holstein. Würdest du darüber gerne in der Türkei Veranstaltungen machen, oder ist das zu gefährlich?

Filiz:

Ich habe den SSW schon kennen gelernt, dort habe ich um die Bemühungen erfahren, die Muttersprache in der Schule zu benutzen und Ortsschilder und Behördenbezeichnungen zweisprachig zu machen. Ich würde gerne darüber Veranstaltungen machen, besonders, wenn ich mit meiner Doktorarbeit fertig bin, und mehr Zeit für andere Sachen habe. Aber im Moment ist es noch gefährlich, in der Türkei solche Diskussionen zu führen. Sogar Leyla Zana, die jetzt freigelassen worden ist, ist nach einigen Äußerungen über die Zeit des Bürgerkrieges sehr klar vom Innenminister verwarnt worden. Es ist immer noch ein großer Unterschied, was nach innen oder außen gesagt wird. Nimm den Gesetzentwurf gegen Ehebruch: Diese populistische Politik, vor der Reise nach Brüssel in Ankara eine Änderung eines Gesetzes für unmöglich zu halten, weil das gegen türkische Kultur, gegen Sitten verstößt, aber nach der Reise diese Änderungen doch im Parlament zu verabschieden, finde ich schwachsinnig. Ich bin gegen die populistische Parteien allgemein, finde aber populistische Parteien mit starken konservativen und religiösen Zügen noch schlimmer. Ich habe immer noch große Vorbehalte gegenüber diesen Parteien. Ich finde natürlich gut, dass die Türkei wegen der EU-Bemühungen eine neue Gesetzgebung hat, will aber noch mal betonen, dass der eigentliche Prozess erst jetzt anfängt. Ich finde absurd, dass man in Deutschland so einen Eindruck erweckt, als ob in der Türkei nach dem 6. Oktober alles viel besser geworden ist und es politisch kaum Probleme mehr gibt. Deswegen meine Aufforderung an dieser Stelle an die deutschen Politikerinnen, die sich mit Türkei ernsthaft zu befassen: Um sich ein reales Bild über die Lage in der Türkei zu machen, müssen sie hier in Deutschland auf jeden Fall die Vertreter der Minderheiten, z.B. Kurden und Aleviten, in Diskussionen mit einbeziehen. Nur die türkische Gemeinde und offizielle Darstellung zur Kenntnis zu nehmen, führt zu einem falschen Bild. Und man muss unbedingt mit Nicht-Regierungs-Organisationen in der Türkei Kontakt aufnehmen, erst so kann man sich ein echtes Bild über die Lage machen.

Interview: Reinhard Pohl

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