(Gegenwind 212, Mai 2006)

Bildung

Anmerkungen zum Schulfrieden

Gewalt an Schulen

Dass irgendetwas schief läuft in der Welt, in der wir leben, kann vielerorts beobachtet werden. Dass es an den Schulen nicht zum Besten steht, ist seit längerem Tenor vielstimmiger und oft unübersichtlicher Debatten. Das Ausfransen der Schuldisziplin, wie es jetzt am Beispiel der Rütli-Schule in Berlin massenmedial spektakulär aufgeführt wird, ist nichts wirklich Neues. Zum einen gehört das Phänomen in den Kanon pädagogischen Dauerklagens und zweitens sind solcherart Probleme auch historisch nicht neu. Ein Blick in schleswig-holsteinische Schulchroniken (nicht die offiziellen, geglätteten; sondern die von klugen Lehrern privat geschriebenen und veröffentlichten) zeigt, dass immer mal wieder Schulen ihre Krisenmonate hatten, in denen die Schüler "wilde Sau" spielten. Dabei ging es meist um ein Überhandnehmen von Schulstreichen, manchmal wurde der Schulbetrieb insgesamt lahm gelegt und Schule auf Spaß am Widerstand umgestellt.

Interessanterweise wurde darauf nicht mit Schulreformen reagiert, sondern mit dem Austausch des Lehrpersonals. Bisweilen bahnte einfach ein Generationswechsel bei den Schülern den Weg zum Schulfrieden. Dies deutet darauf hin, dass ein weiter Weg zurückgelegt wurde von der Einsicht in die (notwendigen) Defekte von Schule, die immer mal wieder auch gewaltheischend waren und sind, hin zu (ganz unangemessenen) Perfektibilitätsvorstellungen, die in immer neuen und doch stets alten Reformen ihren Niederschlag finden und die "zivilisierte" Schule anvisieren.

Heute wird Schulgewalt als etwas ganz Abwegiges, Psychopathologisches, oder allgemein den Scheußlichkeiten der "Gesamtgesellschaft" Zurechenbares gesehen. Überlegungen, dass die Gewalt aus paradoxen Erwartungen der Schule, aus den Schwierigkeiten der Jugend oder aus einem Generationenkonflikt entspringen hört man kaum noch.

Das war mal anders. Die Filme "Feuerzangenbowle" (1944), "Das fliegende Klassenzimmer" (1954, 1973, anders die Adaption von 2002), "Morgen fällt die Schule aus" (1971), "Die Lümmel von der ersten Bank" (Teil 1-7 mit den Titeln: "Zur Hölle mit den Paukern" (1968), "Zum Teufel mit der Penne" (1968), "Pepe, der Paukerschreck" (1969), "Hurra, die Schule brennt!" (1969), "Wir hau'n die Pauker in die Pfanne" (1970), "Morgen fällt die Schule aus" (1971), "Betragen ungenügend" (1972)), allesamt Kassenschlager des Kinos (Darsteller: Heintje und Peter Alexander), geben einen Einblick, welche Klarheit im Verständnis - humorvoll und bisweilen auf Krawall gebürstet - möglich war. Diese Filme wirkten vor allem deshalb komisch, weil sie die geringe Höhe pädagogischer Handlungstechniken mit dem Einfallsreichtum der heranwachsenden Generation konfrontierten und das alles bei doch hoher Wertschätzung der Schule.

In den 80er Jahren war das bereits vorbei. Der Titel "Hurra, hurra die Schule brennt" (Extrabreit 1981) wurde bereits vom Radio boykottiert, zehn Jahre nach dem fast gleichnamigen Film befürchtete man, dass der Titel als Anregung und nicht als musikalischer Ausdruck jugendlichen Lebensgefühls verstanden würde. Ängstlichkeit, Humorlosigkeit und Realitätsverlust begannen ihren bis heute anhaltenden Siegeszug, in den 90ern dann noch durch Lustfeindlichkeit und Freudlosigkeit angereichert.

Damit einher ging der Verlust der Einsicht in die scharfe Begrenztheit von Bildung und Erziehung. Bis vor zwei Generationen war es schlicht üblich, dass Kinder und Jugendliche von Allen erzogen wurden. Nicht nur die Eltern, sondern auch Verwandte, Nachbarn, die Milchhändlerin, die Leute am Kiosk, der Tabakfritze von der Ecke, alle wiesen Kinder darauf hin, nicht auf dem Bordstein zu kippeln, gerade zu gehen, nicht in der Nase zu bohren, Erwachsenen Respekt zu bezeugen und und und. Damit war aber auch Allen die stetige Anstrengung, Geduldsaufwendung und die Erfahrung des Nichtgelingens gegenwärtig. Heute erziehen höchstens noch die Eltern und verwahren sich oft schon gegen die Erziehungsversuche von anderen Verwandten. Erziehung ist damit fast ausschließlich eine Sache von Eltern, die gar keine anderen Erziehungsmuster zur Verfügung haben als diejenigen, die sie in ihrer eigenen Kindheit kennen gelernt haben. Dass das mit dem Gelingen der Erziehung nicht selbstverständlich ist, wurde dann sowohl von den Eltern, weil sie ihre Kinder lieben, als auch von der pädagogischen Profession her dementiert, denn es macht sich schlecht, für etwas zuständig zu sein, das nicht wirklich gut funktioniert. Dass da was beobachtet wird, zeigt sich in folgendem Witz: Wie viele Lehrer braucht man, um eine Glühbirne einzudrehen? Nur einen, aber die Glühbirne muss wollen.

Mit gestiegenen Ansprüchen an Perfektibilität, die paradoxerweise zeitgleich mit dem Nachlassen allgemein öffentlicher Erziehungsanstrengungen entsteht, ging auch eine drastische Verschiebung des Umganges mit Nichtgelingen und allgemein Fehlern einher. Im Schulunterricht hinterlassen Fehler besonders deutliche Lernspuren bei Schülern und geben darüber hinaus erstmals Anlass, sozial zu denken. Dies nicht weil Menschen auch bisweilen Fehler machen, sondern weil sowohl die Fehler selbst als auch der Umgang mit Fehlern so bedeutend sind. Man braucht Fehler zur Orientierung, um überhaupt wissen zu können, was denn richtig ist. Ohne Fehler keine Ordnung. Da es auch um Wissen und Wissensvermittlung geht: Wenn es in der Wissenschaft keine Fehler gäbe, gäbe es gar keine Wissenschaft, weil niemand sich mühen müsste, Thesen zu falsifizieren. Heute gibt man sich gern fehlerfrei und verbaut sich so die wohl wichtigste Ressource, um zu lernen.

Die Gewalt paradoxer Erwartungen

Noch im 18. Jahrhundert war Bildung ein Vorrecht reicher Leute, die sich einen Hauslehrer für ihre Kinder leisten konnten. Dieses Privileg musste fallen, als Preußen 1806 den Krieg gegen Napoleon verlor und die preußischen Aufklärer als Ursache hierfür mangelnde Volksbildung ausmachten. Mangelnde Destruktionsfähigkeit verschränkte sich mit mangelnden Produktionsfähigkeiten. Der König war schwach, und es war vor zweihundert Jahren wohl klarer als heute, dass Bildungsprivilegien für Reiche und Volksverblödung sowie Abstieg des Landes zusammengehören.

Die Vorrechte aus der Herkunft sollten abgebaut werden, und über die Lehrpläne wollte man eine Vereinheitlichung der Erziehung für Alle erreichen. Das erste Ziel der staatlich organisierten Schulen war also die Verhinderung sozialer Selektion. Humboldt hatte zu diesem Zweck vorgeschlagen, jeder Schülerin und jedem Schüler auf dem Abgangszeugnis seine erworbenen Fähigkeiten und Geschicke zu bescheinigen. Dies kann nach dem Muster geschehen: beherrscht den Dreisatz, hat feinmotorisches Talent, kann reden, kann schreiben etc. Aber es kam anders. Durch Zensuren und Prüfungen wurde ein Selektionsverfahren in den Schulen eingeführt, so dass diese sich zur zentralen Stelle für künftige soziale Positionen von Kindern und Jugendlichen entwickelte. Der in der Schule festgezurrte Leistungsplatz wurde in der späteren beruflichen und auch sozialen Laufbahn meist der bleibende.

Einerseits soll die Schule dann zum Gelingen der individuellen Karriere der Schüler, ohne Berücksichtigung der sozialen Herkunft beitragen, andererseits wird sie gezwungen, zu bewerten und dann doch Unterschiede zu machen. Wenn dies von intelligenten, ob ausselektierten oder erfolgreichen Schülern durchschaut wird, wenn sie also ihre Ohnmacht gegenüber den Selektionsmechanismen, die ihnen gegenüber walten, spüren, kann das zu Gewalt verführen.

Diese Argumentation ist nicht mit der gern wiederholten Klage zu verwechseln, Hauptschüler hätten keine Chance auf dem Ausbildungsmarkt. Erstens stimmt das nicht. Obwohl viele für sie vorgesehene soziale Positionen z.B. im einfachen Dienst bei öffentlichen Arbeitgebern vernichtet wurden und die Ausbildungen generell anspruchsvoller werden und oft mit dem Hauptschulabschluss kaum zu schaffen sind, wird der überwiegende Teil der Hauptschüler immer noch ausgebildet. Zwar ist die primäre Übergangsrate - direkt mit dem Schulabschluss in die Lehre - auf unter zehn Prozent gesunken, aber es gibt berufsvorbereitende Lehrgänge, die Jugendliche dann nach einem Moratorium von mindestens einem Jahr in Ausbildung bringen. Und es gibt speziell für Hauptschüler kompensatorische Förderprogramme für Ausbildungsplätze bzw. immer noch eine kleine Zahl überbetrieblicher Stellen. Die Lage ist nicht einfach, aber bei hinlänglicher Anstrengung überhaupt nicht aussichtslos. Zweitens, und das ist bedeutender, ist es für Jugendliche ziemlich das Schlimmste, wenn sie selbst glauben, sie hätten mit ihrem Schulabschluss keine Chance. Dann setzt eine Art sich selbst erfüllender Prophezeiung ein. Erst dadurch dass sie das glauben, stellen sie sich so, dass dies tatsächlich eintritt. Sie halten die Anstrengung, die sie aufbringen müssten, um in Ausbildung zu gelangen, für vergeblich. Daraufhin machen sie gar eine Anstrengungen, sondern versuchen zum Leidwesen so viel Spaß wie möglich in der Schule zu haben. Das setzt sich nach der Schule fort, und Jugendliche, die so drauf sind, finden genau deshalb keinen Ausbildungsplatz.

Aus dem Problem gewaltheischender Paradoxien kommt man übrigens völlig unabhängig von der Schulform nicht raus. Denn die Form in der der Unterricht stattfindet ist in allen Schulen gleich. Er findet stets im Klassenverband oder genauer in direkter Interaktion in einer Gruppe mit mehreren Kindern oder Jugendlichen und mindestens einem Lehrer statt. Einerseits sollen dort die individuellen Begabungen berücksichtigt werden, andererseits sollen alle Schüler gleich behandelt werden. Wie soll eine Lehrerin oder ein Lehrer die höchst unterschiedlichen Verarbeitungsformen des Unterrichtsstoffs bewerten, wenn sie oder er zugleich gerecht sein will und einen einheitlichen Maßstab anlegen muss? Wie soll das gehen, eine Gruppe Kinder oder Jugendliche, deren Anlagen, Fähigkeiten, Fertigkeiten und Neigungen verschieden sind, alle in einer Stunde zu erziehen? Zum einen werden alle Schüler aufgefordert, individuelle und autonome Wesen zu sein, die für ihr Fortkommen selbst Verantwortung zu tragen haben, zum anderen aber wird im Klassenverband unterrichtet und alle sollen dasselbe lernen. Das gelingt nur, wenn man davon absieht, dass alle einzigartige Wesen sind und als Lehrerin und Lehrer genau gegensinnig handelt, und alle als dieselben, also konform behandelt. An dieser Zumutung brennt nicht nur so manche hoffnungsvoll begonnene Lehrerkarriere aus, sondern es ist anzunehmen, dass Schüler auch darauf kommen und genau diese Paradoxie des Lehrens durch ihr Verhalten verstärken.

Hinzu kommt eine hoch problematische Autoritätsstruktur der Schule. Zunächst sollte man sich vom Gedanken verabschieden, dass Autorität etwas ist, was jemand besitzen kann. Autorität ist auf gegenseitige Wertschätzung in Verbindung mit je gewährter Über- und Unterordnung angewiesen. Sie ist so eine immens soziale Angelegenheit. Kann das in der Schule funktionieren, wenn die einzige Quelle der Autorität der Wissensvorsprung der Lehrer ist? Lehrer sind heute in der Regel exklusive Schulmenschen. Sie wurden mit sechs Jahren eingeschult, gingen weiter zur Hochschule und verbringen dann ihr gesamtes Arbeitsleben an der Schule. Dort bekommen sie es mit Schülern zu tun, die ebenfalls den für sie wesentlichen Lebensabschnitt an der Schule verbringen. Kinder und besonders Jugendliche können sich nicht mehr nur mit den Eltern, sondern wahlweise nun auch mit Gleichaltrigengruppen oder mit Lehrern identifizieren. Im ersten Fall werden sie kulturelle Muster aus den Gleichaltrigengruppen in die Schule mitbringen, also für Erwachsene schrille Musikstile, exzentrische Kleidungsstile, merkwürdige Begrüßungsrituale, sprachlich gewöhnungsbedürftige Ausdrucksformen, unter Umständen auch Gewaltrituale, die der Unterscheidung dienen, die allesamt den Lehrern das Leben schwer machen. Im zweiten Fall, der Identifikation mit dem Lehrer, werden Schüler ihre Lehrer besonders genau beobachten, sie auch imitieren und damit zunächst die Lehrer mit dem zuweilen unangenehmen Problem konfrontieren, sich selbst zu begegnen. Die Lehrer können sich alternativ mit Schülern identifizieren und haben damit die gesamte Kindheits- und Jugendproblematik am Hals oder Probleme mit dem Lehrkörper und dem folgenden Abgrenzungstamtam gegenüber Schülern. Dabei werden dann wohl überwiegend Defizite kommuniziert; es findet sich ja immer was, was Schüler nicht können, stets geht es aber um Abgrenzung und nicht um Wertschätzung. Die Identifikation mit den Schülern birgt ebenfalls mehr Probleme als Lösungen, zumal wenn Lehrer sich selbst jugendlich stilisieren und die Imitation so auf Gegenseitigkeit gestellt wird. Imitation ist aber eine wesentliche Quelle der Gewalt, wenn Begehren so imitiert wird, dass das Begehren anderer imitiert wird und man sich nichts mehr wünscht als in diesem Begehren bestätigt zu werden. Das sofort Rivalität entsteht ist offensichtlich und diese zerstört jede Autoritätsstruktur sehr gründlich.

Das Einzige, was Lehrer an der Schule von Schülern wirklich unterscheidet, ist ihr Wissensvorsprung. Wenn dann eine Generation von Schülern aus welchen Gründen auch immer Wissen gering schätzt oder auch z.B. mehr und anderes Wissen über den Computer mitbringt als Lehrer es haben, wird aus der auf Wissensvorsprung basierenden Autorität rasch eine explosive Mischung, die sich an fast beliebigen Auslösern entzünden kann.

Jugendliche stehen ohnehin in der Grundparadoxie, zugleich ins Leben geführt zu werden und ihr eigenes Leben zu führen. Kinder werden ins Leben geführt, Erwachsene führen ihr eigenes Leben. Über Kinder wird entschieden, Erwachsene haben sich zu entscheiden und für Jugendliche gilt je beides zugleich. Jugend findet so in der Paradoxie der Gleichzeitigkeit von Führen und Geführt werden statt. Wenn Jugend gelingt, dann als Entparadoxierungsleistung. Deshalb sind Jugendliche auch besonders anfällig für Kränkungen. Sie fühlen sich wahlweise gekränkt, weil man wie alle Anderen behandelt, oder weil sie eben nicht wie alle anderen behandelt werden. Sie sind gekränkt, weil man sie wie ein Kind behandelt oder sie sich wahlweise als Erwachsene verhalten sollen und sich überfordert fühlen. Sie sind zu beleidigen indem man ihnen Entscheidungen vorenthält oder sie mit eigenen Entscheidungen allein lässt. Und Kränkungen sind ebenfalls eine Quelle der Gewalt. Dies zeigt, wie anstrengend Schule für alle Beteiligten ist, und dass Gewalt in der Schule eher erwartbar ist als Gewaltlosigkeit. Das alles sind keine Gewaltgeneratoren, die quasi automatisch Gewalt erzeugen, aber es handelt sich bei der Schule um eine soziale Konfiguration die gewaltoffen ist.

Es stellt sich auch die Frage, warum man etwas hinnehmen soll, das man nicht als vorteilhaft für sich ansieht. Beim mitt-lerweile wieder populär gewordenen Ruf nach Zivilisierung und Zivilität wird gern übersehen, dass Zivilisation über das Versprechen läuft, dass ein Gewaltverzicht für jeden von Vorteil ist, weil dann über Rechtsförmigkeit auch Gewaltschwächere gewinnen können. Warum aber bitte sollte jemand, der durch Gewaltverzicht nichts gewinnen kann, auf Gewalt verzichten? Doch nur wenn man ernsthaft drohen kann, und zwar mit Gewalt.

Erschwerend kommt hinzu, dass Gewalt eine wichtige Rolle in der Frage der sozialen Ordnung spielt. Wie soll denn auf die Nichtbefolgung von Regeln reagiert werden? Jede Drohung mit Sanktionen ist nur dann plausibel, wenn sie letztendlich mit Gewalt durchgesetzt werden kann. Das heißt nicht, dass die Gewalt alltäglich ist, sondern dass man sie braucht, um auf sie verzichten zu können. Stets drohen und nie sanktionieren ist nur lächerlich. Und dass es ein Gewaltmonopol des Staates gibt, lernen Schüler zwar im -WiPo-Untericht, aber jeder Mensch muss mit seiner eigenen Gewaltfähigkeit auch umgehen lernen. Dies gelingt oder misslingt in der Jugend.

Wenn also die Gewalt in der Nachbarschaft des Friedens haust, heißt das auch, dass jede Schule sich in einem Kontinuum zwischen den Polen der Gewaltlosigkeit und der manifesten Gewalt bewegt. Und je nachdem, wo man sich gerade befindet, hat man es mit anderen Problemen zu tun. Eine eher gewalttätige Lage bringt Killertypen unter den Schülern hervor, die den Schutzraum Schule für alle Anderen zerstören. Dann braucht es Lehrer, die auch damit umgehen können und die Lage hin zum Frieden wenden können. Eine gänzlich gewaltlose Lage bringt Ängstlichkeit, Timidität und eine Herabsetzung der Empfindlichkeit gegenüber Gewalt hervor. Dann trauen sich Lehrer vielleicht schon bei einfachen Handgreiflichkeiten zwischen pubertierenden Jugendlichen nicht mehr einzuschreiten. Die Pausenaufsicht rückt ins Lehrerzimmer ab, und gemeinsam mit Kollegen wird dann beobachtet, dass die jungen Leute von heute gar keine Hemmschwellen mehr kennen. Richtig wäre es gewesen, den Streit persönlich zu beenden, dann wäre es gar nicht zur Beobachtung von Gewalt und wohl auch nicht zu deren Zunahme gekommen. So aber führt die gut gemeinte Gewaltlosigkeit direkt in Gewaltverhältnisse.

Die strukturelle Schwäche der Schule, die darin besteht, alles in direkter Interaktion aushandeln zu müssen, dabei im organisierten Kontext zu agieren - also Bürokratiegesättigt - und auch noch gesellschaftliche Funktionen zu erfüllen und auf die gewohnte Entlastungsfunktionen zu setzen, erzeugt eigene Paradoxien, die gewaltempfindlich sind. Der auftretenden Gewalt kann nur durch ein Annehmen in direkter Interaktion begegnet werden. Die Gewalt markiert in Organisationen die Grenze zwischen Kommunikation und Nicht-Kommunikation, und es bleibt Aufgabe des pädagogischen Personals, diese Grenze wahrzunehmen und den Weg zum Schulfrieden zu ebnen. Es ist allerdings nicht davon auszugehen, dass solche Kompetenzen stets vorliegen, zumal diese an der Hochschule nicht ausgebildet werden. Sinnvoll ist dann eine Art Schulfeuerwehr zu bilden, die aus Schulsoziologen, Schulpsychologen und wohl auch kampfsport-erprobten Pädagogen bestehen kann. Am Bildungsministerium angesiedelt, kann eine solche Gruppe von Schulen in problematischen Situationen angefordert werden um erste Hilfestellungen zu geben und Schwelbrände auszutreten.

Die Verwendung der Gewalt

Wenn man davon ausgeht, dass Gewalt die Grenze zwischen Kommunikation und Nicht-Kommunikation markiert, dann kann kommunikativ vielseitig angeschlossen werden. Es gibt gerade keine Eindeutigkeiten, die sich aus Gewalt ableiten ließen. So wurde der Anschlag auf das World Trade Center von der amerikanischen Regierung zum Anlass genommen, eine Heimatschutzbehörde mit tiefen Eingriffskompetenzen in die Bürgerrechte zu schaffen und den Irak zu überfallen. Die damalige Bundesregierung nahm die Gewalt der RAF in den 70er Jahren zum Anlass, eine Bundespolizei aufzubauen. In beiden Fällen wurde die Gewalt verwendet, um etwas zu tun, was man auch vorher wollte.

Dies ist jetzt auch anlässlich der Ereignisse an der Rütli-Schule der Fall. Vor allem Konservative verwenden die Vorgänge, um die Dämme gegen Zuwanderung und Migration zu erhöhen. Dabei spielt die Rede von der Integration eine wichtige Rolle. Integration scheint ein positiv besetzter Begriff zu sein, wenn man allerdings genauer hinschaut, dann ist eine integrierte Gesellschaft durch ein hohes Maß an Konformität gekennzeichnet. Es werden halt bestimmte Normen und Vorstellungen von allen Integrierten geteilt. In diesem Sinne wird durch Integration der Spielraum möglicher legitimer Verhaltensweisen eingeschränkt, oder im Klartext: Es wird Freiheit genommen. Dabei war die Stärke und auch der Ausweis der Lebensqualität in Deutschland lange Zeit, dass die Bevölkerung nicht auf gemeinsame Werte festgelegt wurde. Es galt: Wir sind viele und wir sind unterschiedlich und politisch geht es darum, dass die Vielen mit ihren Unterschieden gemeinsam in einem Land leben können. Es bleibt ihnen überlassen, ob sie sich aufeinander einlassen oder sich aus dem Wege gehen. Das wird jetzt mit der Rede von der Integration aufgekündigt.

Und da ist noch die Rede von der Parallelgesellschaft. Zugegeben: Auch ich hielt die nur-Bildzeitungs-lesenden und biersaufenden Malocher ebenso für eine Parallelgesellschaft wie die Leute aus dem Golfclub, die ganz eigentümliche Dinge praktizieren und reden. Auch die Leute aus den Wellness-Centern, die sich nur über Gesundheit unterhalten, sind eigentlich eine Parallelgesellschaft, und auch städtische Hundehalter sind irgendwie verdächtig parallel, weil ihre Tierchen das oberlästige Zuscheißen der Bürgersteige übernehmen. Jedenfalls ist die Rede von der Parallelgesellschaft eher ein Rätsel denn dessen Lösung.

Wirklich problematisch finde ich, dass es die Bundesregierung ohne den Hauch eines Protestes zugelassen hat, dass - ob mit oder ohne deutschen Pass - Bürger von einem ausländischen Geheimdienst bei Nacht und Nebel aus der Republik entführt werden, in Lagern konzentriert werden und dort offensichtlich auch gefoltert werden. Das kann ganz unangenehme Folgen haben, denn beim allerbesten Willen ist Loyalität zu solch einem Staat nicht begründbar.

Thomas Herrmann

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