(Gegenwind 226, Juli 2007)

Die "Blume" in Kiel:

"Nein, körperlich misshandelt wurde ich hier nicht..."

"Das zweite von links im dritten Stock...": Bernd Trede, Ljudmila Stepanovna Muratova, Marlis Rathje und Luba Chevyreva (von links) vor der Blume
"Das zweite von links im dritten Stock...": Bernd Trede, Ljudmila Stepanovna Muratova, Marlis Rathje und Luba Chevyreva (von links) vor der Blume

Bernd Trede (46) kommt an diesem samstäglichen 2. Juni in seiner Freizeit, um für eine ungewöhnliche Besucherin eine Führung zu machen. So etwas sei ihm wichtig, sagt der Leiter des Polizei-Gewahrsams, das gehöre zur Geschichte seines Berufsstandes und dieses Hauses. Die Rede ist von der "Blume", einem in Kiel bekannten Zellentrakt in der gleichnamigen Straße.

Die BesucherInnen sind von weit her: Ljudmila Stepanovna Muratova (82) und ihr Enkelsohn Sergey Bogsa (27) aus dem russischen Rostov/Don. In ihrer Begleitung Marlis Rathje, Sonderschullehrerin aus Kiel-Friedrichsort und Initiatorin des Besuches sowie Luba Chevyreva, beide arbeiten in der Bürgerinitiative Gedenkstein für Zwangsarbeiter, die zusammen mit der Heinrich-Böll-Stiftung ein umfangreiches Besuchsprogramm für Frau Muratova erarbeitet hatte.

1933 der erste Mord

Vor dem eigentlichen "Blume"-Besuch weist Trede auf eine an der Außenwand des Gebäudes befindliche Tafel hin (Ecke Gartenstraße), die die mörderische Vergangenheit nicht verschweigt:

"Das Polizeipräsidium, nach seinem Standort in der Blumenstraße benannt, wurde 1904 - 1908 im Stil mittelalterlicher Burgen errichtet. Die Wiederherstellung des Gebäudes nach dem Krieg vermittelt davon nur noch einen fragmentarischen Eindruck.
Im Zusammenhang mit dem nationalsozialistischen Aufruf zum Boykott jüdischer Geschäfte am 1. April 1933 kam es in der 'Blume' zum Lynchmord an dem jüdischen Rechtsanwalt Friedrich Schumm, ausgeführt von Mitgliedern der SA und SS.
1933 -1935 wurde das Gebäude Sitz der Gestapo. Nach deren Umzug in die Muhlius-, dann in die Düppelstraße, blieb der Zellentrakt weiter Gestapogefängnis.
Nach Kriegsbeginn war die 'Blume' Durchgangsstation für damals beschönigend so genannte Schutzhäftlinge, vor allem für Zwangsarbeiter aus Polen und der Sowjetunion.
Im März 1951 erfolgte die Übergabe des Gebäudes an die nach demokratischen Grundsätzen neu aufgebaute Polizei.
Heute ist hier der Sitz der Bezirkskriminalinspektion und der Kriminalpolizeistelle Kiel."

Und nun steht eine von ihnen, Ljudmila Stepanovna Muratova, nach 65 Jahren wieder an diesem Ort, noch vor dem Gebäudearsenal, und findet sofort das Zellenfenster, hinter dem sie nach schwersten Misshandlungen durch die Gestapo (in der Düppelstraße), einen Monat lang, "untergebracht war". Die ansonsten immer fröhliche Seniorin wirkt ernst und um "Haltung" bemüht, während Bernd Trede alle Fragen der BesucherInnen nach dem Alter des Gebäudes, seinen Umbauten, seiner jetzigen Nutzung usw. usf. geduldig beantwortet. Ljudmila Stepanovna Muratova möchte unbedingt vom Enkelsohn das Fenster fotografiert bekommen und beginnt immer wieder neues Altes zu berichten, als wolle sie das Betreten des Innenhofes noch ein wenig hinauszögern.

Neun mal lang und drei mal breit

"Neun Schritte in der Länge, drei in der Breite"... die heute im Vergleich zu 1942/43 um das Doppelte vergrößerte Zelle.
"Neun Schritte in der Länge, drei in der Breite"... die heute im Vergleich zu 1942/43 um das Doppelte vergrößerte Zelle.

Schließlich ist es so weit, Frau Muratowa ist angespannt wie sonst fast nie während ihres Aufenthaltes. Und während sie mit kreisenden Bewegungen erklärt, dass dort, wo jetzt die Fahrzeuge stehen, sie ihren Hofgang zu machen hatte, gehen ihre Blicke immer wieder hoch zum Fenster: "Das zweite von links im dritten - das ist mein's gewesen".

Als ob sie es nun hinter sich bringen will, steigt sie hinter Bernd Trede die vielen Stufen bis in den 3. Stock hoch. Vorbei an einer Zellentür, in die ein streichholzschachtelgroßes Hakenkreuz eingeritzt ist. Blass, sehr ernst und doch auf eine eigentümliche Weise "stark" wirkend, steht sie nun in "ihrer" Zelle, die durch Zusammenlegung heute doppelt so groß ist wie früher. Sie zeigt die Stelle, an der sich ihre an die Wand wegklappbare Pritsche befand. Sonst gab es nichts. Kein Stuhl, kein Schrank - einfach nichts. Hinlegen oder sitzen (auf dem Boden) ... alles verboten. Nur auf- und abgehen war nicht untersagt. Festen Schrittes demonstriert Frau Muratova neun Schritte in der Länge, drei Schritte in der Breite - immer und immer wieder. "Ich hab' die Schritte mitgezählt - sinnlos, aber es lenkte ein bisschen ab."

Sie ruft Sergey. Der kommt, wirft einen Blick in die Zelle, fotografiert und geht auf den Flur, der zwar auch eng ist, aber nicht so beklemmend. Er, der zum ersten Mal in Deutschland ist, kommt erkennbar mit der Situation nicht zurecht. Oder weiß nicht viel damit anzufangen. Jedenfalls fotografiert er mehr als üblich und sagt fast nichts.

Ljudmila Stepanovna Muratova wurde im Oktober 1942 als 17jährige Studentin der Meterologie bei einem ganz normalen Stadtgang in der Innenstadt von Rostov/Don von einer vorbeiziehenden Soldateska, die ZwangsarbeiterInnen rekrutierte, "wahllos" aufgegriffen und sofort und direkt in einen Güterwagen Richtung Deutschland gebracht.

Auf eine solche Weise nach Kiel verschleppt musste sie im Konstruktionsbüro der Germania-Werft (heutiges Gelände der Halle 400) Reinigungs- und Aufräumarbeiten durchführen. Obwohl unter Strafe - jeder mitmenschliche Kontakte zwischen Deutschen und "Ostarbeitern" war strengstens verboten - schloss sie schon bald Freundschaft mit dem Schlosser Hans und dem Hofarbeiter Max. Frau Muratova konnte Hans mehrmals privat besuchen - nicht um dort an ihrem "freien" Tag auch wiederum arbeiten zu müssen (was erlaubt war).

Max und Hans waren Widerstandskämpfer, fassten bald Vertrauen zu Ljudmila und baten diese, Flugblätter an die sowjetischen ZwangsarbeiterInnen zu verteilen: "Der Krieg ist bald zu Ende, bewahren Sie Ruhe!" Die Siebzehnjährige wurde verraten und zum Verhör in die Düppelstraße gebracht, wo sie schwersten Misshandlungen ausgesetzt war. Sie verriet jedoch nichts und niemanden. Vier Wochen Aufenthalt in der Kieler "Blume" folgten. Danach wurde Frau Muratova im August 1943 direkt ins Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück gebracht.

Nach der Befreiung 1945 und Rückkehr zu ihrer Mutter nach Rostov/Don konnte Ljudmila Stepanovna Muratova ihr Studium nicht wiederaufnehmen. Ehemalige ZwangsarbeiterInnen wie sie standen im Ansehen der damaligen sowjetischen Gesellschaft am untersten Ende, Kollaborateuren und Verrätern gleich. Erst als sie ihre Verschleppung nach Deutschland zwei Jahre später bei einem erneuten Immatrikulationsversuch an der Rostover Universität "vergaß" anzugeben, gelang die Studiumsaufnahme. Jetzt aber nicht das ursprüngliche Fach, sondern Ernährungswissenschaften. "Ich hatte bis dahin immer nur Hunger kennen gelernt - und dagegen wollte ich was tun!", sagt Frau Muratova zu ihrer damaligen Berufswahlmotivation. Sie wurde später Leiterin einer Brotfabrik.

Heute lebt Frau Muratova von einer sehr kleinen Rente und ist aktives Mitglied und 1. Präsidentin der Rostover Vereinigung ehemaliger Zwangsarbeiter (ca. 120 Mitglieder) und KZ-Häftlinge (ca. 2.000).

Gefördert wurde das Projekt durch den Fonds "Erinnerung und Zukunft" der Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" in Berlin.

"Weinen kann ich nicht mehr..."

Seine Großmutter ist derweil immer noch in "ihrer" Zelle. Sie streicht in einem wohl unbeobachtet geglaubten Moment mit der Hand kurz über die Wand, sieht zu den Fenstern hinauf, aus denen sie keinen Ausblick hatte, weil unerreichbar hoch und macht wieder laut zählend ihre Schritte: neun mal lang und drei mal breit.

"Waschen," antwortet sie auf eine entsprechende Frage, "waschen gab es die ganze Zeit nicht. Allenfalls heimlich auf dem Plumpsklo." Eine weitere TeilnehmerInnen-Frage nach dem Zähneputzen und der Intimpflege verstummt sogleich, bevor zu Ende gestellt - Frau Muratova hat sie nicht gehört und die Dolmetscherin wohl auch nicht oder vielleicht sogar überhört.

Hart sind die ansonsten weichen Züge um ihren Mund herum geworden, blass ist sie, sehr sogar. "Ja, mein Herz rast, aber weinen kann ich nicht mehr" - oder hat sie "will" ich nicht mehr gesagt? Nein, in der 'Blume' sei sie körperlich nicht misshandelt worden. Aber als Mensch habe sie sich nicht gefühlt, eher wie ein Gegenstand. Und dabei habe sie damals ja gar nicht gewusst, nicht einmal geahnt, dass ihr noch viel, viel Schlimmeres, Entsetzliche(re)s, ja Unvorstellbares bevorstünde.

3 Minuten für KZ-"Urteil"

Vorher gab es noch eine "Gerichtsverhandlung". "Ich wurde in einen etwas größeren Raum geführt, in dem drei Uniformierte an einem Tisch saßen. Sichtlich angewidert richteten sie eine Frage an mich. Ich musste bestätigen, dass ich Makarova (Mädchenname) heiße, dann wurde kurz etwas genuschelt, was ich nicht verstand und eine unmissverständliche Fußbewegung, solche 'die man macht, um einen streunenden Hund zu verjagen', beendete die »Verhandlung«".

"Zwei, drei oder vielleicht vier Minuten" habe das ganze gedauert. Am Ende stand das "Urteil": Überstellung in das Frauen-KZ Ravensbrück mit der ausdrücklichen Anordnung: "Ohne Wiederkehr". Aus Ljudmila Stepanovna Muratova wurde im August 1943 die Lager-Nummer 23746.

Die Kieler "Reise in die Vergangenheit" endet dort, wo sie begann: im Innenhof. Die überdimensioniert große Metallschiebetür ist schon geöffnet und gibt den Blick frei auf ein Stückchen der Gartenstraße.

Sie stehen sich gegenüber: Der große, junge Deutsche und die kleine, alte Russin.

Ein kleines bisschen Angst kommt auf. Wird Bernd Trede gleich fragen, ob ihr's gefallen hat? Sie verabschieden mit dem dahingeredeten "... vielleicht seh'n wir uns ja mal wieder?" oder "noch einen schönen Tag!" wünschen? Und würde die Dolmetscherin so etwas dann übersetzen?

Nach dem Besuch ein Abschiedsfoto: Bernd Trede neben Ljudmila Stepanovna Muratova
Nach dem Besuch ein Abschiedsfoto: Bernd Trede neben Ljudmila Stepanovna Muratova

Bernd Trede sagt völlig unprätentiös: "Ich hoffe, wir konnten zeigen, dass wir Besuche wie heute von Ihnen, für wichtig halten und uns unserer Geschichte stellen wollen."

"Wollen", hat Trede gesagt, nicht interpretierbar "müssen".

Zwar immer noch blass, aber wieder mit fester Stimme und schon weicheren, gelösteren Gesichtszügen gibt Ljudmila Stepanovna Muratova Bernd Trede zum Abschied die Hand und lächelt beim Schlussfoto auch schon ein wenig.

Dann geht sie schnellen Schrittes hinaus zum bereitstehenden Fahrzeug, wendet den Kopf zurück, um noch einen Blick auf "ihre" Zelle zu werfen. Und dreht dann ihren ganzen Körper in Richtung Fenster. Verharrt einen Moment, atmet richtig tief durch und geht endgültig.

Sergey wartet schon längst im Auto.

Dieter Boßmann

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