(Gegenwind 231, Dezember 2007)

Erwerbslosenparlament tagte in Schwerin

Tut Mecklenburg-Vorpommern allen gut?

Mitglieder des Erwerbslosenbeirates Protestieren in Schwerin gegen Kinderarmut - 60.000 Kinder im Land leben in Armut
Auf dem Weg zum Dom

Das 10. Erwerbslosenparlament zog seine Bilanz der Beschäftigungspolitik in Mecklenburg-Vorpommern nach der Bildung der SPD-CDU-Koalition 2006

Im Schweriner Schloss tagte aus Anlass des "Aktionstag der Sozialproteste" am 26. Oktober das Erwerbslosenparlament des Landes Mecklenburg-Vorpommern wiederum mit 200 Delegierten aus den 70 Verbänden, die sich in diesem Netzwerk seit 1998 zusammengeschlossen haben. Vor Beginn des Parlamentes wurde mit einer Mahnwache vor der Schweriner Staatskanzlei an das Leid von Kindern in Armut erinnert. In der Mittagspause entzündeten Abgeordnete des Parlamentes 60 Kerzen für die 60.000 Kinder in der Armutsfalle bei einem "Mittagsgebet gegen Kinderarmut" im Schweriner Dom.

In seiner Eröffnungsrede zog der Vizepräsident des Landtages, Herr Hans Kreher, eine Bilanz der Arbeit vom 1. zum 10. Parlament. Er betonte, dass durch die außerparlamentarische Arbeit dieses Netzwerkes den Menschen, "die von Arbeitslosigkeit betroffen sind, ein Gesicht und vor allem Gewicht gegeben" wurde. Hoch bewertete er auch die kreativen Vorschläge, die vom Beirat erarbeitet und von den Erwerbslosenparlamenten bestätigt wurden, als Angebote alternativer Lösungen für das Land. So wurden unter aktiver Mitwirkung der Erwerbslosenorganisationen Vorstellungen für den Öffentlich geförderten Beschäftigungssektor (ÖBS), für die Regionalisierung der Beschäftigungspolitik entsprechend den konkreten Bedingungen vor Ort und viele konkrete Beschäftigungsprojekte, für die es kein gewinnbringendes privatwirtschaftliches Angebot gibt, entwickelt. Damit sei bewiesen: "Ihnen geht es nicht nur um eine Interessenvertretung an sich, sondern darum, aktiv Wege aufzuzeigen zur Verbesserung der Beschäftigungssituation". Durch die Arbeit des Parlamentes wurde "erfolgreich Ihr Recht auf Mitwirkung und Beteiligung erkämpft." Der Vizepräsident des Landtages betrachtet es als "anerkennenswert, dass es Gruppen und Menschen gibt, die sich außerhalb der etablierten Wege Gedanken um die Zukunft der von Arbeitslosigkeit und Armut Betroffen machen".

Die Berechtigung der Fragestellung in der Losung des 10. Parlamentes "Tut Mecklenburg-Vorpommern allen gut?" wurde in den mit reichen Fakten und Beispielen belegten Ausführungen von Dr. Rudolf Martens an hand der Forschungsberichte des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes nachdrücklich bewiesen.

Wir fordern kostenloses Mittagessen für alle Schulkinder - Jedes dritte Kind in Mecklenburg-Vorpommern ist von ARMUT betroffen!
Mitglieder des Erwerbslosenbeirates protestieren in Schwerin gegen Kinderarmut

Der Bericht des Erwerbslosenbeirates an das Parlament brachte die Sorge der Erwerbslosenorganisationen des Landes mit dem Kurswechsel der SPD-CDU-Koalition in der Beschäftigungspolitik des Landes zum Ausdruck. Christian Köpcke als 1. Sprecher des Beirates, betonte, "dass sich die Lage der Erwerbslosen trotz schöner Sonntagsreden einiger Politiker nicht verbessert hat."

Schaut man in die Zeitungen, dann liest man, dass die Zahl der Erwerbstätigen steigt und die Arbeitslosigkeit sinkt. Aber abseits dieser schönen Reden zeigen die Fakten ein anderes Bild. Mecklenburg-Vorpommern hatte bei der Zahl der Erwerbstätigen nach dem großen einigungsbedingten Abschwung in den Jahren 1992/1993 einen Aufbau von Arbeitsplätzen bis 1995. Dann erfolgt ein ständiger Abbau bis 2005.

Der jetzige Anstieg der Zahl der Erwerbstätigen erfolgte auf das Niveau des Jahres 2004. Dabei muss allerdings beachtet werden, dass 9,7 % dieser Beschäftigten in Teilzeit arbeiten und dass mit der 2007 neu eingeführten Zählweise bei den Arbeitslosen die Unterbeschäftigung nicht mehr in den so genannten monatlichen "Arbeitsmarktberichten" nachlesbar ist.

Das Parlament geht davon aus, dass tatsächlich mehr als 200.000 Menschen im Lande erwerbslos und auf der Suche nach einem existenzsichernden Arbeitsplatz sind.

Seit dem 9. Erwerbslosenparlament ist noch deutlicher geworden, dass durch die ständige Erhöhung des Arbeitszwanges, insbesondere für Langzeitarbeitslose, die Abkehr von solchen Schutznormen deutscher Sozialpolitik wie dem Schutz der persönlichen Würde und dem Berufsschutz oder die Zunahme der prekären Beschäftigungsformen die Angriffe auf die Erwerbslosen beträchtlich zugenommen haben. Diese Angriffe wurden konkret benannt:

Der Erwerbslosenbeirat schätzte ein: "Nicht die Wahrung der Menschenwürde und das Gemeinwohl stehen im Vordergrund, sondern ein erzwungener Gehorsam und die Opferung der sozialstaatlichen Errungenschaften auf dem Altar der neoliberalen, globalisierten Wirtschaftspolitik."

Hartz IV ist Armut per Gesetz
Mitglieder des Erwerbslosenbeirates protestieren vor der Staatskanzlei (Kinderarmut)

Aber auch durch die Beschäftigungspolitik des Landes wird die Ausgrenzung der Langzeiterwerbslosen und die Verschlechterung der Lage für die erwerbslosen Frauen und Männer nach der Bildung der SPD-CDU-Koalition immer deutlicher betrieben. Während in Berlin, Brandenburg oder Thüringen die innovativen Ansätze des mit Unterstützung der Erwerbslosenvertretungen entwickelten Arbeitsmarkt- und Strukturentwicklungsprogramms der Rot-Roten-Regierung weiterentwickelt wurden hat die neue Koalition eine aktive Beschäftigungspolitik beerdigt. Sie bindet Beschäftigungspolitik an einen so genannten "1. Arbeitsmarkt" ohne diesen zu definieren. Auf der Strecke bleiben die Langzeitarbeitslosen und viele Projekte für deren Integration in den allgemeinen Arbeitsmarkt.

Negativ wirkt sich dabei vor allem die in der Koalitionsvereinbarung vorgenommene inhaltliche und institutionelle Trennung der Beschäftigungspolitik in zwei Ministerien und die damit verbundene rigorose Einschränkung der Mittel für den neu erfundenen "Sozialen Arbeitsmarkt" aus. Letzterer soll jetzt alle auffangen, die nicht mehr den Profitinteressen der Unternehmen dienen. Diese Trennung ist in Mecklenburg-Vorpommern ein einmaliger Vorgang, wie es ihn seit 1990 bei keiner Regierung gegeben hat. Weder im Inhalt noch in den Instrumenten spürt man noch einen Einfluss der SPD. Selbst bei den Beschäftigungsgesellschaften, ursprünglich von der SPD im Saarland entwickelt, wird der Rotstift angesetzt. Das hat sich nicht einmal die erste Koalitionsregierung aus CDU und FDP getraut. Jetzt werden die neoliberalen Vorstellungen der CDU von einer Beschäftigungspolitik gegen die Erwerbslosen Schritt für Schritt durchgesetzt.

Das hat den Erwerbslosenbeirat bewogen, seine Position zur geförderten Beschäftigung weiter auszuarbeiten und dem Parlament zum Beschluss vorzulegen. Auf dieser Grundlage wird der Widerstand nötiger denn je sein.

Die "Position des Erwerbslosenbeirates zur geförderten Beschäftigung für Langzeitarbeitslose ohne Chancen auf dem regulären Arbeitsmarkt" orientiert auf die vorrangige Ausgestaltung von existenzsichernden, sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen auch durch die arbeitsmarktpolitischen Instrumente, auf die Weiterführung der erfolgreichen Erfahrungen aus dem Arbeitsmarkt- und Strukturentwicklungsprogramm des Landes, auf die Unterstützung der Sozialbetriebe und auf die Stärkung des Non-Profit-Sektors, eingeschlossen die Gründung neuer Genossenschaften.

Ein immer wichtigerer Bestandteil der Arbeit der Erwerbslosenvertretungen wurde in den letzten Jahren die Beratung und Betreuung der Erwerbslosen. Die Einführung der ARGEn hat dazu geführt, dass der Einzelne durch die subjektiven Auslegungen des SGB II durch seinen persönlichen Ansprechpartner und ein undurchschaubares Gestrüpp von Paragrafen seine Rechte nur noch wahrnehmen kann, wenn er auf eine unabhängige Beratung zurückgreifen kann oder selbst Jura studiert hat.

Da die Beratung und Betreuung durch die Arbeitsagenturen oder ARGEn lediglich im Interesse einer Eingliederung in irgendeine Arbeit erfolgt, ist eine unabhängige Sozialberatung vor Ort die einzige Chance Erwerbslose vor Willkür der Behörden zu schützen. Hinzu kommt, dass die Widerspruchsstellen im Bereich der Arbeitsagenturen oder Arbeitsgemeinschaften nicht mehr unabhängig und nicht mehr im Rahmen der vorgeschriebenen 3 Monate entscheiden.

Dass alle Hartz-Gesetze mit ihren Grausamkeiten tagtäglich reibungslos durchgesetzt werden können liegt vor allem am zu schwachen individuellen wie kollektiven Alltagswiderstand der Betroffenen. Leistungsempfängerinnen und Empfänger egal welcher Transferleistung benötigen zur Durchsetzung ihrer Rechte und als Schutz vor der Verelendung komplexe und wohnortnahe Hilfe. Sie benötigen Betreuung um Zivilcourage zu beweisen, sie benötigen Mut und Ausdauer bei der Rechtsdurchsetzung und Ermunterung zu solidarischem Verhalten und eigenverantwortlichem und kollektivem Kampf um ihre Rechte.

Immer problematischer wird die Mobilisierung der Erwerbslosen zum gemeinsamen Kampf zur Durchsetzung ihrer Interessen. Vom Erwerbslosenparlament wurden dafür vor allem zwei Ursachen benannt. Zum einen führt die Demagogie um eine angebliche "Reformpolitik" zur Hilflosigkeit weil es schwerer geworden ist, zu erkennen, gegen WEN und WIE der Widerstand erfolgen muss. Zum anderen hat die Regionalisierung in der Folge der veränderten Struktur der Arbeitsverwaltung und bei der Umsetzung des SGB II dazu geführt, dass auch der Widerstand gegen die Diskriminierung regional organisiert werden muss. Und das ist ungleich schwieriger als die Organisierung eines zentralen Protestes.

Mitglieder des Erwerbslosenrates stellen im Schweriner Dom Kerzen auf
60 Kerzen für die Kinderarbeit

Der notwendige Widerstand gegen den Sozialabbau erfordert mehr und mehr die Mobilisierung vor Ort.

Das Parlament forderte dazu auf, die Bürgermeister und Landräte, die Abgeordneten in den kommunalen Volksvertretungen und die demokratische Öffentlichkeit mit den Forderungen der Erwerbslosen für eine aktive regionale Arbeitsmarktpolitik vertraut zu machen. Alle, die vor Ort politische Verantwortung tragen müssen spüren, dass die Erwerbslosen nicht mehr bereit sind die würdelose Behandlung durch die Hartz-Gesetze widerspruchslos hinzunehmen. Sie haben Alternativen und wollen, dass die Trägerversammlungen in den ARGEn dazu Stellung beziehen. Durch regionale Beschäftigungsprogramme sollen die Potenziale vor Ort mobilisiert und die Würde des Menschen gestärkt werden. Eine geeignete Wohnung, eine die Armut verhindernde Bildung, die materielle Absicherung der Kindesentwicklung und die Achtung vor den Rechten der im Erwerbsleben stehenden und der Rentnerinnen und Rentner muss gesichert werden.

Das 10. Erwerbslosenparlament hat wiederum bewiesen, dass Netzwerke nicht schlechthin modern sind. Sie sind notwendig um die Menschen zu schützen, ihnen Halt und Geborgenheit zu vermitteln.

Die "Einheit im Kampf" um die Erhaltung des Sozialstaates will das Parlament hüten und bewahren und damit die außerparlamentarische Bewegung im Land unterstützen. Anders ist die Zukunft für die Gesellschaft nicht zu gestalten. Je mehr Menschen begreifen, dass die unsoziale Hartz-Gesetzgebung jeden treffen kann umso breiter wird das soziale Bündnis werden.

Gerd-Erich Neumann

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