(Gegenwind 257, Februar 2010)

Maria Chagelishvili

Korrupte Justiz in Georgien

"Es geht um das ganze System"

Maria Chagelishvili über Korruption in Georgien, die Verhaftung ihrer Mutter und die Annährung des Landes an die EU

Im Gegenwind 240 berichteten wir über Georgien. Anlass war ein Krieg um das Autonome Gebiet Südossetien pünktlich zur Eröffnung der Olympischen Spiele. Russische Truppen kamen Südossetien zu Hilfe, die Regierungstruppen Georgiens hatten keine Chance. Eine Untersuchungskommission der EU hat inzwischen festgestellt, dass Georgien der Angreifer war.
Im Südkaukasus ist Georgien das Land, das am deutlichsten in die NATO und die EU strebt. Die EU arbeitet mit Georgien im Rahmen der "Östlichen Partnerschaft" zusammen, eine konkrete Perspektive für einen EU-Beitritt gibt es aber nicht. Einer der Gründe ist der "Transformationsprozess": Georgien gehörte lange zur Sowjetunion, zwei autonome Gebiete haben sich in Bürgerkriegen abgespalten, und auch die inneren Veränderungen (Privatisierung von Staatsbetrieben, Regierungswechsel) spielen sich häufig gewaltsam ab.
Eine Dolmetscherin aus Kiel, Maria Chagelishvili, erläutert die rechtsstaatliche und demokratische Verfassung Georgiens am Beispiel ihrer Mutter Rimma Kim, die im Dezember in Georgien verhaftet wurde und bis zum Redaktionsschluss nicht frei kam. Dieser Fall ist typisch für die dortige Rechtsordnung, wie in vielen Berichten von Menschenrechtsorganisationen und dem Europarat bestätigt wird.

Gegenwind:

Du kommt aus Georgien und studierst in Kiel. Georgien hat erklärt, dass es in die NATO und in die EU will. Glaubst Du, dass das möglich ist?

Maria Chagelishvili:

Zur Zeit geht das sicher nicht. Dafür gibt es mehrere Gründe. Vor allem ist das georgische Volk von seiner Mentalität her nicht reif dafür. Es gibt dort eine ganz andere Lebensart als in Europa. Georgien gehörte lange zur Sowjetunion, nach dem Zerfall ist sehr viel kaputt gegangen. In den 90er Jahren wurde der Staat von Kriminalität und Arbeitslosigkeit beherrscht. Heute ist die Kriminalität zurück gegangen, zumindest nach den offiziellen Statistiken, genauso wie die Arbeitslosigkeit. Aber nach inoffiziellen Quellen sind Schmiergelder und gute Beziehungen immer noch wichtiger als alles andere.

Ich lebe seit sechs Jahren in Deutschland. Jedes Mal, wenn ich nach Georgien fahre, sehe ich äußerliche Unterschiede. Die Städte werden modernisiert, Straßenlaternen und Ampeln gebaut. Aber die Leute verändern sich überhaupt nicht. Ein Beispiel: Wenn die grüne Ampel für Fußgänger an ist, fahren die Autos trotzdem weiter. Wenn man versucht, die Straße zu überqueren, wird man auch noch beschimpft. Müll wird nicht in die Mülltonnen geworfen, sondern auf die Straße, obwohl es inzwischen fast überall Mülleimer gibt. Ich habe natürlich hauptsächlich Kontakt mit meiner Mutter, die in Georgien lebt. Aus ihren Erzählung war ich überzeugt, dass es den Menschen besser geht, zumindest finanziell gesehen. Sie hat selbst für die jetzige Regierung Sakaaschvili gekämpft und seine Wahlkampagnen unterstützt. Heute erlebt sie einen Alptraum.

Gegenwind:

Was ist mit deiner Mutter im Dezember passiert?

Maria Chagelishvili:

Am 8. Dezember rief ich sie auf ihrem Handy an. Nach zwei Tagen mit ausgeschaltetem Handy machte ich mir Sorgen, ich habe keine Verwandten außer ihr, die ich fragen könnte. Meine Schwester ist vor fünf Jahren gestorben, sie wurde nur 23 Jahre alt. Mein Vater war schon gestorben, als ich sechs war. Ich konnte meine Mutter nicht erreichen, ich habe dann aber die Nummer von ihrer Nachbarin herausgefunden. Sie sagte mir, meine Mutter wäre verhaftet worden. Ihr wurde das Handy weggenommen. Aber niemand wüsste, warum sie verhaftet wurde.

Ich habe also überall angerufen, Menschenrechtsorganisationen und Suchdienste, alle die vielleicht sagen könnten, wo meine Mutter sich befindet. Nach drei Tagen bekam ich die Telefonnummer des Polizisten mitgeteilt, der meine Mutter verhaftet hatte. Er sagte mir, er wüsste auch nicht warum, er bekam einen Haftbefehl und wüsste nicht, wo sie weiter hingekommen wäre. Er sagte mir aber, dass sie vom Staat einen Anwalt bekommen hätte, und den konnte er mir nennen. Die Nummer gab er mir nicht, die sollte ich selbst rausfinden. Ich habe die von einer Freundin meiner Mutter erfahren.

Das zeigt sicherlich schon, wie die Justiz und der Rechtsstaat in Georgien funktioniert oder, besser, was dort alles nicht funktioniert.

Rimma Kim
Rimma Kim,
die Mutter von Maria Chagelishvili

Gegenwind:

Wie lange dauerte es, bis du deine Mutter gesprochen hast?

Maria Chagelishvili:

Ich habe sie erst am 1. Januar gesprochen, also fast vier Wochen nach der Verhaftung. Der staatliche Anwalt Gamaspishvili hatte mir den offiziellen Grund erklärt. In Tiflis gibt es angeblich keine Möglichkeit, ins Ausland zu telefonieren, außerdem hätte sie im Gefängnis kein Geld gehabt, um zu telefonieren. Wir haben inzwischen den staatlichen Anwalt durch einen privaten Anwalt ersetzt, den ich selbst bezahle. Ich habe Geld hingeschickt, der Anwalt hat meiner Mutter Telefonkarten gekauft. Erst danach durfte sie mich anrufen. Aber sie durfte nur kurz telefonieren, nur zwei oder drei Minuten, wir konnten kaum etwas besprechen.

Gegenwind:

Was wird ihr denn vorgeworfen?

Maria Chagelishvili:

Nach europäischem Rechtsverständnis ist das absurd. Ihr wird vorgeworfen, dass sie umgerechnet 80 Euro von ihrem Konto abgehoben hat und dann die Bank mit einer falschen Aussage belastet habe. Es geht um die Sakartwlos Banki, bei der sie ihr Gehaltskonto hat. Vorgeworfen wird ihr also Betrug nach Paragraph 372 (1) und 373 (1) des georgischen Strafgesetzbuches.

Gegenwind:

Und wie war es wirklich?

Maria Chagelishvili:

In Wirklichkeit war es so, dass meine Mutter ihren Lohn überwiesen bekommt, das sind 583 Lari im Monat, also rund 234 Euro. Im Juni entdeckte sie, dass 200 Lari, also rund 80 Euro auf dem Konto fehlten. Das Geld war angeblich am 6. Juni 2009 abgehoben worden. An dem Tag war sie aber nicht in Bolnissi, wo sie wohnt und wo die Bank ist, also auch nicht am Geldautomaten. Es gibt kein Verbund - man kann Geld nur bei der Bank selbst abheben, sie war aber mit einer Bekannten in einer anderen Stadt. Sie schrieb einen Brief an die Bank und hat das Problem geschildert. Sie hat ihre Bekannte als Zeugin angegeben, dass sie an dem Tag nicht in Bolnissi war. Lange passierte nichts, erst nach ein paar Monaten kam die Polizei zu ihr nach Hause und nahm sie mit aufs Revier. Die Polizei sagte, sie sollte die Anzeige zurücknehmen, sonst käme sie ins Gefängnis. Aus Angst zog sie sofort die Anzeige zurück und verzichtete auf das fehlende Geld. Am 7. Dezember wurde sie plötzlich verhaftet. Es gab keinen Prozess, nur diesen Haftbefehl. Der Staatsanwalt Herr Pataraia in Bolnissi hat sie verhaften lassen wegen Verdunkelungsgefahr und Fluchtgefahr. Ihr wird vorgeworfen, das Geld selbst abgehoben zu haben und die Bekannte zu einer falschen Zeugenaussage überredet oder gezwungen zu haben. Da sie aber ihre Beschwerde über das fehlende Geld längst zurückgezogen hat und es nur um rund 80 Euro ging, ist die Verhaftung damit nicht wirklich zu erklären.

Gegenwind:

Wie geht es deiner Mutter?

Maria Chagelishvili:

In einem georgischen Gefängnis geht es niemandem gut. Aber bei ihr besteht eine besondere Gefahr. Meine Mutter ist erst 53, aber sie hat mit dem Tod ihres Mannes und meiner Schwester schon viel durchgemacht, sie ist nicht besonders stabil. Außerdem leidet sie an Zuckerkrankheit. Vom privaten Anwalt haben wir gehört, dass die Zellen so überfüllt sind, dass sie nur zu zweit ein Bett haben. Meine Mutter erzählte mir am 8. Januar, sie habe zeitweise auf dem Tisch der Zelle geschlafen.

Die Nachbarin hat ein paar Lebensmittel ins Gefängnis gebracht, aber sie durfte nur einen Teil abgeben. Angeblich dürfen die Gefangenen nicht alle Lebensmittel bekommen. Besuche müssen schriftlich beim Staatsanwalt beantragt werden. Sie wird behandelt wie eine Terroristin.

Man muss grundsätzlich davon ausgehen, dass in Georgien jede Haft gefährlich ist. Es sind alte Gefängnisse, total überfüllt, und es gibt keine wirklichen Veränderungen gegenüber der Zeit in der Sowjetunion. Ansteckende Krankheiten können sich leicht verbreiten, weil Ernährung, Hygiene und medizinische Versorgung nur auf einem sehr niedrigen Niveau stattfinden.

Gegenwind:

Geht es wirklich um 80 Euro? Oder was könnte dahinter stecken?

Maria Chagelishvili:

Im Hintergrund steht eine andere Geschichte aus Bolnissi. Die Staatsanwaltschaft ist sauer und will sie hart bestrafen. Wenn es wirklich um einen versuchten Betrug ginge, wäre das sicherlich nicht so schlimm, dafür kommt man eigentlich nicht ins Gefängnis. Speziell in diesem Fall ist es ja auch so, dass sie ja den Brief mit ihrer Beschwerde schon vor längerer Zeit zurück gezogen hat.

Aber 2004 ist meine Oma, also die Mutter meines Vaters gestorben. Meine Mutter, also die Schwiegertochter, und die Schwester meines Vaters, also die Tochter streiten sich um das Erbe. Es geht um eine Eigentumswohnung, allerdings nur eine kleine im Wert von vielleicht 2000 Euro. Meine Mutter prozessiert in meinem Namen, weil ich als Enkelin nach Recht und Gesetz erbberechtigt bin. Meine Mutter wurde mehrmals von Anwälten aus Bolnissi gewarnt, sie sollte den Streit vor Gericht aufgeben. Ein Anwalt namens Katuwa Bagashvili hat zu meiner Mutter im Sommer 2009 gesagt, wenn sie den Rechtsstreit nicht abbreche, würde sie ins Gefängnis gesteckt. Ich war 2008 in Georgien, habe aber keinen Termin in dieser Erbschaftssache bekommen. Der Staatsanwalt Herr Kakulia sagte mir damals, er habe keinen freien Termin, und ich sollte mir nicht einbilden, nur weil ich aus Deutschland komme und sechs Stunden bei ihm im Flur warte, müsste er mit mir sprechen.

In Georgien haben Staatsanwälte viel Macht, sie entscheiden auch bei privaten Rechtsstreitigkeiten. Und meine Tante ist Georgierin, meine Mutter stammt ursprünglich aus Korea. Sie ist aber in Russland geboren und schon als Kind nach Georgien gekommen, sie ist in Georgien aufgewachsen. Aber in Georgien wird vieles von Familienclans geregelt, und die Familie meines Vater hat beschlossen, dass meine Mutter beziehungsweise ich als Enkelin nicht erben darf. Ich habe meiner Mutter mehrmals gesagt, sie sollte den Erbschaftsstreit doch lassen, aber meiner Mutter ging es immer um die Gerechtigkeit.

Solche Probleme sind typisch für Georgien, eigentlich auch in anderen Nachfolgerepubliken der Sowjetunion bekannt. Über irgend etwas gibt es Streit, aber die eine Seite hat über die Familie bessere Beziehungen und Einfluss. Und die Justiz arbeitet eben nicht nach Recht und Gesetz, sondern nach Einfluss, Beziehungen, Macht und Geld.

Gegenwind:

Wie werden denn solche Angelegenheiten in Georgien geregelt?

Maria Chagelishvili:

Ich habe mit mehreren Leuten gesprochen, die sich in der Justiz Georgiens auskennen. Mir wurde gesagt, dass wir mit der Staatsanwaltschaft nicht diskutieren können, sondern wir müssen auf ihre Bedingungen eingehen, damit meine Mutter frei kommt. Dabei hatte der staatliche Anwalt Gamaspishvili uns schon gesagt, dass Georgien mit solch einer Verhaftung gegen die Menschenrechtskonvention des Europarates verstößt. Georgien ist Mitglied des Europarates, wir könnten beim Menschenrechts-Gerichtshof in Straßburg gegen die Haft klagen. Aber das kann zehn Jahre dauern, meine Mutter käme während der Wartezeit nicht aus dem Gefängnis. Heute sieht es so aus, dass meine Mutter die Schuld anerkennen soll und eine sogenannte Strafe bezahlen soll, die Höhe wissen wir noch nicht. Das wird von der Staatsanwaltschaft und dem Gericht ohne uns vereinbart. Es geht ihnen wohl um etwa 2000 Euro, die sie haben wollen. Unser jetziger Anwalt hat uns gesagt, wir müssten die Erbschaftsklage zurücknehmen und das Geld bezahlen. Wenn wir weiter wegen des Erbes klagen, wäre er sicher, dass meine Mutter im Gefängnis bleiben müsste.

Gegenwind:

Weißt Du schon, was du jetzt machen willst?

Maria Chagelishvili:

Ich habe das Geld nicht. Ich bin Studentin, habe ein kleines Kind. Ich müsste das Geld von einer anderen Tante, einer Schwester meiner Mutter leihen. Aber es gibt keine andere Möglichkeit als auf den Deal einzugehen. Ich kann meine Mutter nicht für Monate im Gefängnis lassen, ich weiß nicht, wie lange sie das übersteht.

Solange die Korruption in der Justiz nicht besiegt wird in solche kleine Orte wie Stadt Bolnissi und eine Reihe von andre klein Städten, kann man nicht die Georgien als zuverlässige Mitglied für die EU betrachten.

Unsere Präsident Michail Saakashvili möchte sicher die Korruption besiegen. Aber solange es einige korrupte Richter oder Staatsanwälte existieren, Georgien kann nicht in der EU. Ich wünsche mir für mein Land, dass dieses ganze System irgendwann verschwindet.

Interview: Reinhard Pohl

Rechtsstaatliche Garantien im Strafverfahren

Zu den Grundlagen eines effektiven Strafverfahrens gehört die Möglichkeit der Verhängung von Untersuchungshaft, wenn diese im Hinblick auf die Schwere der Tat angemessen ist, die weiteren Voraussetzungen vorliegen (Flucht- oder Verdunkelungsgefahr) und die Anordnung eines Richters vorliegt. Darüber hinaus hat sich in der Praxis ein Verfahren etabliert, bei dem es zu einer Bestrafung ohne Eröffnung oder Abschluss der Hauptverhandlung kommt, wenn sich der Angeschuldigte mit der Strafe "einverstanden erklärt". Das vor allem in den USA praktizierte Verfahren ist aus rechtsstaatlicher Sicht nicht unproblematisch, wird aber aus praktischen Gründen zur Entlastung der Justiz für notwendig erachtet und ist in Deutschland vor kurzem gesetzlich geregelt worden. Entscheidend ist auch hier die richterliche Aufsicht über das Verfahren.

Aus Georgien gibt es jüngerer Zeit Berichte von Fällen, in denen diese beiden Institute kombiniert und entgegen ihrem ursprünglichen Zweck genutzt werden. Dabei scheinen dies nicht nur Fehlleistungen Einzelner zu sein. Der Umstand, dass es einen entsprechenden Posten auf der Einnahmenseite im Haushalt gibt, lässt darauf schließen, dass derartige Entgleisungen offiziell einkalkuliert werden. Das alles wäre weniger dramatisch, wenn in Georgien die Richter ihrer Aufgabe gerecht würden und Missgriffen Einhalt geböten. Nach den vorliegenden Berichten scheint aber in vielen Fällen die richterliche Unabhängigkeit nicht gewahrt zu sein, so dass es an einer Kontrolle fehlt.

Dr. Achim Schramm
Universität Bremen

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