(Gegenwind 261, Juni 2010)

Wir wollen Gleichheit und Akzeptanz / Wir wollen Gerechtigkeit / Stop! Stop! Rassismus Diskriminierung / Integration ist keine Einbahnstraße

Polizeieinsatz und Anklage wegen „Widerstands”:

Einfache Gewalt

Wohl selten geht es im Amtsgericht Niebüll so lebhaft zu wie am 19. Mai. Rund 30 Menschen, darunter ein Drittel Kinder, begleiten ein Ehepaar (selbst mit drei Kindern) zur Verhandlung. Auf Pappschildern fordern sie, Integration nicht als Einbahnstraße zu begreifen, andere Menschen zu akzeptieren, zu respektieren, wenden sich gegen Rassismus und Diskriminierung.

Auf ihrem Weg vom Rathaus zum Amtsgericht quer durch die Innenstadt fährt ein Polizeiwagen vorbei, die Beamten grüßen freundlich und fahren weiter. Direkt am Eingang zum Gericht wird der Zug von zwei Polizisten gestoppt, dann aber alle mit der Ermahnung reingelassen, sich entsprechend den Regeln zu verhalten. Die Kinder erobern das Treppenhaus und sind fasziniert von den Glastüren und Glaswänden im Eingangsbereich.

Doch die Angelegenheit ist ernster als das fröhliche Treiben auf dem Flur und im Treppenhaus erkennen lässt. Fast alle, die hier sind, stammen aus Togo, nur die Kinder sind natürlich Nordfriesen. Wenige Einheimische sind dazu gestoßen, meist mit einem oder zwei der Togoer persönlich befreundet. Kanyni und Torovi Agbaze sind wegen Widerstands angeklagt. Nach der Anklageschrift soll Kanyni Agbaze sich in einen Nachbarschaftsstreit, den eine Streife der Polizei gerade zu klären versuchte, eingemischt haben. Er habe Platzverweise ignoriert, sich dann der Feststellung der Personalien widersetzt und wurde schließlich festgenommen. Seine Frau, die erst zu diesem Zeitpunkt dazu kam, habe sich ebenfalls eingemischt, Platzverweise ignoriert und wurde ebenfalls festgenommen.

Was ist passiert?

Die Sache begann nicht direkt harmlos, aber doch alltäglich. Die Polizei wurde am 9. September zu einem Nachbarschaftsstreit in die Breslauer Straße in Westerland / Sylt gerufen. Die streitenden Frauen, eine aus der Türkei, die andere aus Togo, hatten die Polizei schon öfter beschäftigt. Es ging um Lärm, dazu kamen im Laufe der Polizeieinsatzes weitere Vorwürfe wie Beleidigung, Bedrohung...

Kurz nach 18 Uhr kam Kanyni Agbaze von der Arbeit, hörte den Streit im Nachbarhaus, sah auch den Polizeiwagen und ging in den 1. Stock. Was dann passierte - darüber gehen die Darstellungen auseinander.

Ehepaar

Das Ehepaar Agbaze

Nach seinen Aussagen, und vor Gericht sagten beide sehr ausführlich aus, kam er hinzu und versuchte, seine Landsfrau zu beruhigen. Die Polizei forderte einen Ausweis, und Kanyni riet ihr, den sofort aus der Wohnung zu holen - aussagen müsste sie nicht, ihre Personalien angeben schon. Als er dann nach seinem Ausweis gefragt wurde, teilte er mit, es wohne hier nicht, sondern müsste erst nach Hause und seinen Pass holen. Als ein Polizist sich ihm in den Weg stellte, habe er protestiert: Was sie denn von ihm wollten, schließlich lebe er seit Jahren hier, sei nicht illegal und habe sich auch sonst nichts zu Schulden kommen lassen.

Als er dann am Polizisten vorbei wollte, um seinen Pass aus dem Nachbarhaus zu holen, habe dieser in angegriffen, mit Pfefferspray ins Gesicht gesprüht, ihn zu Borden geworfen und gemeinsam mit einem Kollegen die Hände mit Handschellen auf den Rücken gefesselt. Dabei sei er in den Rücken und den Hals getreten worden und habe dann das Bewusstsein verloren. Er sei erst wieder zu sich gekommen, als ein Rettungswagen kam und sich um ihn kümmerte.

Kanyni Agbaze, geboren 1962, ist Deutscher. Er kam 1995 her, sein Asylantrag wurde 2001 anerkannt. 2002 zog er nach Westerland, 2005 wurde er eingebürgert. Seine Frau, geboren 1976, ist (noch) Togoerin, das Paar hat vier Kinder.

Das älteste Kind, damals 13 Jahre alt, war damals dabei. Als der Vater festgenommen wurde, rannte er rüber nach Hause und berichtete der Mutter, die Polizei wäre da, der Vater würde dringend seinen Ausweis brauchen. Sie holte ihn und lief zum Nachbarhaus. Dort fand sie ihren Mann benommen oder bewusstlos, Schaum vor dem Mund, und wollte sich um ihn kümmern. Stattdessen wurde sie von einem Polizisten mehrfach abgedrängt, schließlich ebenfalls zu Boden geworfen, auch ihr wurden die Hände mit Handschellen auf den Rücken gefesselt. So lag sie eine Stunde lang gefesselt auf dem Rasen vor dem Haus, von der Polizei bewacht, während ihr Mann weggefahren wurde.

Das Gericht ist geduldig

Eigentlich sollte der gesamte Prozess nach einer Stunde schon zu Ende sein. Jetzt ist eine Stunde vorbei, und ausgesagt haben nur die beiden Eheleute. Das hatte der Richter offenbar nicht einkalkuliert. Beide legen auch Atteste über ihre Verletzungen vor, die sie bei der Festnahme erlitten haben.

Nicht zur Sprache kommt, dass sie damals die beteiligten Polizisten angezeigt hatten. Das Verfahren war von der Staatsanwaltschaft eingestellt worden. Auch ein zweiter Versuch, ein Verfahren zu erzwingen, wurde abgewiesen. Stattdessen kam die Anzeige von der Polizei wegen „Widerstands”.

Der Richter fragt nach dem Jungen, der dabei war, und dem Arzt, der die Verletzungen attestierte. Beide, so die Verteidigerin Monika Möller aus Husum, wollte sie eigentlich als Zeugen hören, das habe sie im Januar oder Februar 2010 beantragt, beide seien aber nicht geladen worden. Wirklich? Der Richter blättert und blättert. Mit vereinten Kräften wird der Brief in der Akte entdeckt. „Das muss ich übersehen haben”, so Richter Krauel selbstkritisch. Er bittet die Eltern, den Sohn in der Schule anzurufen und her zu bestellen. Selbst kümmert er sich um den Arzt. Für eine halbe Stunde ist die Hauptverhandlung unterbrochen.

Mehrfach hat er zwischendurch zur Ruhe gemahnt. Es ging nicht um das Publikum, dass die Stuhlreihen bis zum letzten Platz gefüllt hat. Es geht um die Kinder, die teils schlafen, teils trinken, teils spielen. Die Mütter, so will es der Richter, dürfen gerne mit Kindern im Raum bleiben - wenn aber Wäsche gewechselt wird oder Kinder sich langweilen und deshalb laut werden, sollte das außerhalb des Gerichtssaals geklärt werden.

Die Polizei

Drei beteiligte Polizisten sagen nacheinander als Zeugen aus. Tim L., 34 Jahre, hat sich um die togoische Nachbarin gekümmert. Er habe, da es nicht nur um Ruhestörung, sondern auch um Körperverletzung gegangen sei, nach den Personalien gefragt. Hier sei der Angeklagte plötzlich dazu gekommen und habe sich eingemischt: Sie müsste keine Personalien angeben, sie sollte sich weigern. Tim L. habe dann einen Platzverweis ausgesprochen, Kanyni Agbaze aufgefordert, das Treppenhaus zu verlassen. Doch der habe sich geweigert, und zwar mehrfach. Da die Polizei nur zu zweit war, der Kollege war bei der türkischen Seite des Nachbarschaftsstreits, habe er dann von dem ihm unbekannten Nachbarn die Personalien verlangt. Doch der habe sich strikt geweigert und als Grund angegeben, er könne keinen Pass zeigen, weil er illegal in Deutschland wäre.

So sei die Situation eskaliert. Er habe seinen Kollegen hinzu gerufen, Verstärkung angefordert. Bei einem Hinweis auf Illegalität müsste man den Betroffenen festnehmen und zum Revier bringen, um das zu überprüfen. Da der sich weiterte, habe Tim L. nach einer deutlichen Drohung mit der Pfefferspray-Dose dieses dann eingesetzt und gemeinsam mit dem Kollegen Kanyni Agbaze zu Boden gebracht. Der habe sich gewehrt, wollte nicht flach liegen, er habe „einfache Gewalt” einsetzen müssen. Auf Nachfrage gibt er an, er habe mit mehreren Fußtritten gegen die Oberschenkel die Liegeposition erzwungen, um die Hände auf dem Rücken „fixieren” zu können.

Anschließend habe man Kanyni Agbaze die Treppe herunter geschleift, da er nicht laufen wollte, ihn in den Streifenwagen gesetzt. Hier sei die Ehefrau dazu gekommen, um die habe sich aber die Besatzung des zweiten, gerade angekommenen Streifenwagens gekümmert. Sie wären mit dem Festgenommenen losgefahren.

Unterwegs sei dieser auf dem Rücksitz zusammengesackt, habe nicht mehr reagiert. Deshalb rief die Polizei einen Rettungswagen, als der kam, wurden dem Festgenommen auch die Handschellen wieder abgenommen. Plötzlich sei dieser wieder völlig klar gewesen und habe den Rettungssanitätern geschildert, er sei gerade von der Polizei zusammengeschlagen worden. „Schauspielerei” nennt Tim L. das.

Anschließend kommt der Kollege Marcel K. rein, 30 Jahre alt und ursprünglich aus Lübeck. Er sei dazu geholt und informiert worden, Kanyni Agbaze wolle sich nicht ausweisen. Auch er schildert den Angeklagten aufgeregt, aggressiv, mit rudernden Armen und bedrohlich. Der Kollege habe nach einer deutlichen Warnung Pfefferspray eingesetzt, dann habe man den Beschuldigten zu Boden gebracht und gefesselt.

Fußtritte? Nein, so was habe es nicht gegeben. Der Richter erwähnt, der Kollege habe die Fußtritte geschildert. Kann sein, so Marcel K., davon habe er aber nichts mitbekommen. Auch er schildert den Angeklagten als Schauspieler, der im Streifenwagen zusammensank, dann aber nach Eintreffen des Rettungswagens plötzlich putzmunter die Misshandlungen durch die Polizei erzählte.

Der dritte Polizeibeamte, Florian Z, ist ebenfalls 34 Jahre alt. Er sei dazu gekommen, als der Angeklagte schon festgenommen und zum Streifenwagen gebracht wurde. Er habe die Ehefrau abgefangen, die versucht habe, die Polizisten von ihrem Mann wegzuziehen.

Hier gibt Florian Z. seine persönliche Überzeugung wider: Es sei ihm zutiefst zuwider, Gewalt gegen Frauen einzusetzen, und er habe viel Verständnis, dass eine Ehefrau sich um ihren festgenommenen Mann sorgt. Aber bei einem Polizeieinsatz sei es eben wichtig, Herumstehende auf Abstand zu halten, zumal sich zu dem Zeitpunkt schon viele Nachbarn gesammelt hätten, es sei zu „Solidarisierungen” gekommen. Damit meint er keine Solidarisierung mit der Polizei. Er habe Frau Agbaze mehrfach zurückgeschoben, an den Schultern. Als es alles nichts nützte, habe er sich vorsichtig zu Boden gebracht und ihr die Hände auf den Rücken gefesselt. Sie habe sich aber schnell beruhigt, vor allem nachdem der Streifenwagen mit ihrem Mann weg war, und dann habe er ihr die Handschellen auch wieder aufgeschlossen.

Demonstration in Niebüll gegen Rassismus und Diskriminierung

Andere Zeugen

Der Prozess dreht sich nach 14 Uhr. Zunächst wird Ablavi Sessou-Osse gehört, die togoische Nachbarin, um deren Streit es ursprünglich gegangen war. Sie berichtet, sie habe sich tatsächlich geweigert, ihren Pass zu zeigen. Herr Agbaze sei dazugekommen und habe sie überredet, den Ausweis zu holen und zu zeigen. „Die Polizei hat ein Recht, den Ausweis zu kontrollieren”, habe er ihr gesagt. Dann habe die Polizei ihn selbst nach dem Ausweis gefragt, und er kündigte an, ihn aus seiner Wohnung im Nachbarhaus zu holen. Die Polizisten seien daraufhin aggressiv geworden und hätten ihm zwei Minuten Zeit gegeben, den Ausweis aus der Hosentasche zu ziehen. Er habe gesagt: „Ich bin doch nicht illegal hier”, aber das habe nichts genützt: Als er los ging, hätten die Polizisten ihn mit Pfefferspray angegriffen, zu Boden geworfen und gefesselt.

Die Staatsanwältin hält das für unglaubwürdig. Im Polizei-Protokoll ihrer Vernehmung stehe doch etwas anderes. Frau Sessou ist sich sicher: Bei der Polizei habe sie mit Hilfe eine Dolmetschers alles genauso erzählt. Das Protokoll wollte sie danach vorgelesen bekommen, das habe die Polizei verweigert - der Dolmetscher sei zu teuer, sie könnten das nicht bezahlen, deshalb solle sie unterschreiben ohne das Protokoll noch mal rückzuübersetzen. Sie habe sich geweigert, und im Protokoll in der Akte fehlt tatsächlich ihre Unterschrift.

Anschließend wird Wassiou Ogoundola gehört, ein Nachbar, der nicht beteiligt war, sich aber zu der Zeit ebenfalls im Treppenhaus aufhielt. Er berichtet auch, Herr Agbaze sei von den Polizisten angegriffen worden, Frau Agbaze ebenfalls. Auch er hatte laut Protokoll bei der Polizei etwas anderes ausgesagt, allerdings ohne Dolmetscher. Auch er hatte das Protokoll nicht unterschrieben, weil die Polizei dort eine völlig andere Darstellung notiert habe.

Die Vernehmung von Christina Grundmann, einem 14-jährigen Mädchen aus der Nachbarwohnung, bestätigte den Eindruck, dass die Polizisten sehr aggressiv vorgegangen waren. Sie hatte die Festnahme von Herrn und später Frau Agbaze durch die halb geöffnete Wohnungstür beobachtet, aber nur zum Teil gesehen.

Der Sohn der Familie, Folly Agbaze, war inzwischen aus der Schule Westerland alleine zum dem Zug nach Niebüll gefahren und hatte auch das Amtsgericht gefunden. Er war mit seinem Vater zusammen ins Treppenhaus des Nachbarhauses gegangen und hatte alles miterlebt und mit angesehen. Er bestätigte, dass der Vater lediglich seinen Ausweis holen wollte und mit brutaler Gewalt daran gehindert wurde. Er beschrieb genau, dass es die Polizisten waren, die sich dem Vater in den Weg stellten. Auch beschrieb er massive Fußtritte gegen den ganzen Körper des Vaters, als dieser schon am Boden lag - die von ärztlichen Gutachten auch bestätigt waren, aber von allen beteiligten Polizisten als „Schauspielerei” des Festgenommenen abgetan wurden. Mehrfach fragen Richter und Staatsanwältin nach, der Junge bleibt bei seiner Schilderung, die er genauso oft wiederholt.

Anschließend einigten sich Anwälte und Staatsanwaltschaft darauf, das Verfahren gegen Frau Agbaze, die mehrfach versucht hatte, die Polizisten von ihrem Mann wegzuziehen, gegen eine kleine Geldbuße einzustellen.

Dann gibt die Staatsanwältin auf: Sie beantragt Freispruch für Kanyni Akbaze. Dem schließt sich die Verteidigerin an, und das Gericht verkündet um kurz nach 17 Uhr den Freispruch.

Aus dem ausgehängten Terminplan vor dem Saal ging hervor: Der Richter hatte geplant, nach der Feststellung der Anwesenden sechs Zeugen im Abstand von 5 Minuten zu hören und den Prozess bis 12 Uhr, also innerhalb einer Stunde zu beenden. Die sechsfache Zeit dauerte es, die Anklage komplett zu zerlegen.

Rassismus?

Wäre das auch passiert, wenn die Nachbarn einheimisch, weis gewesen wären? Es hängt jetzt an der Staatsanwaltschaft des Landgerichtes Flensburg, die zweimal eingestellten Ermittlungsverfahren gegen zumindest zwei der Polizisten wieder aufzunehmen - oder eben nicht.

Reinhard Pohl

Jules Tekpo

Zur Startseite Hinweise zu Haftung, Urheberrecht und Datenschutz Kontakt/Impressum