(Gegenwind 265, Oktober 2010)

Özlem Cekici

Einwanderung

"Ich verdanke meinen Werdegang meinen Eltern"

Özlem Cekici dolmetscht und übersetzt in Lübeck - und hat gerade ihre eigene Anwalts-Kanzlei eröffnet. Grund genug, sie kennen zu lernen.

Gegenwind:

Können Sie sich als erstes vorstellen?

Özlem Cekici:

Ich bin 33 Jahre alt und Rechtsanwältin. Seit Mai habe ich in Lübeck meine eigene Kanzlei. Ich habe mich mit einer Kollegin zu einer Bürogemeinschaft zusammengeschlossen. Außerdem bin ich ermächtigte Urkundenübersetzerin für die türkische Sprache.

Gegenwind:

Wie lange haben Sie in Deutschland gelebt, wie lange in der Türkei?

Özlem Cekici:

Ich bin in Lübeck geboren, allerdings bin ich mit zwei Jahren zurück in die Türkei und bin dort bei meinen Großeltern aufgewachsen. Mit 13 Jahren bin ich nach Deutschland zu meinen Eltern zurückgekehrt. Ich bin danach hier zur Schule gegangen. Wegen meiner soliden Ergebnisse bin ich hier aufs Gymnasium aufgenommen worden. Ich habe allerdings zwei Jahre gebraucht, um Deutsch wirklich zu beherrschen - so lange brauchte ich immer ein Wörterbuch in der Schule, in der Klasse. Das war eine schwierige und anstrengende Zeit. Ich hatte aber von meinen Eltern beigebracht bekommen: Es gibt keinen anderen Weg als die Bildung. Ich wollte mich immer weiter bilden, eine andere Perspektive kannte ich nicht. Ich habe immer die Zähne zusammen gebissen und mich durch den Stoff gekämpft. Am Anfang konnte ich mich auch mit den anderen Schülerinnen und Schülern nicht unterhalten, aber irgendwann kam der Zeitpunkt, wo es wie von alleine ging.

Gegenwind:

Konnten Ihre Eltern Ihnen helfen, zum Beispiel bei den Hausaufgaben?

Özlem Cekici:

Das war schwierig. Das ist auch der Grund, warum ich meine, dass man hier unbedingt die Sprache beherrschen muss, wenn man weiter kommen möchte, wenn man was aus sich machen möchte.

Gegenwind:

Gab es in der Schule andere Kinder, die türkisch sprachen?

Özlem Cekici:

Ja, die gab es, aber nicht sehr viele.

Gegenwind:

Wie haben sich denn die Lehrer verhalten? Ein Kind, das kein Deutsch kann, wird ja häufig zur Hauptschule geschickt.

Özlem Cekici:

Da habe ich wirklich Glück gehabt. Unser Direktor war ein weltoffener, toleranter Mensch. Er wollte unbedingt Mädchen mit Migrationshintergrund fördern. Er wollte mir die Chance geben, mich zu beweisen. Er war beeindruckt durch meine schulischen Leistungen. In der Türkei war ich auf einer Privatschule. Ich hatte ungefähr 14 verschiedene Fächer, fast alles auf Englisch. Er hat immer gesagt, mal gucken, wie sie sich in anderen Fächern macht. Er hat auf Französisch, Mathe oder Biologie geachtet, zwei Jahre lang wurden meine Deutsch-Leistungen nicht bewertet. Aber das kam durch ihn.

Gegenwind:

Hatten Sie zusätzlichen Deutsch-Förderunterricht?

Özlem Cekici:

Nein, das hatte ich nicht. Ich musste die Sprache alleine lernen. Aber zum Glück waren die Lehrer geduldig, sie haben mich nicht unter Druck gesetzt oder in die Enge getrieben. Ich konnte mich mit der Zeit entfalten. Ich erinnere mich, dass mein Vater bei der Englisch-Lehrerin war, gleichzeitig unsere Klassenlehrerin, und er hat sie gefragt, ob er Nachhilfe-Unterricht organisieren soll. "Soll sie Deutsch-Unterricht nehmen?", hat er gefragt. Meine Lehrerin sagte: "Nein, sie ist noch jung, das wird von alleine kommen. Aber sie braucht noch Zeit, und die geben wir ihr hier in der Schule." Insofern hatte ich schon Glück.

Gegenwind:

Sind Sie gleich in die Klasse mit Gleichaltrigen gekommen?

Özlem Cekici:

Ja, ich bin gleich in die 7. Klasse gekommen. Ich habe dann 1997 Abitur gemacht.

Gegenwind:

Wann fühlten Sie sich in beiden Sprachen sicher? Wissen Sie noch, wann Sie das erste Mal gedolmetscht haben?

Özlem Cekici:

Das war auch um die Zeit. Ich habe für Bekannte und in der Familie gedolmetscht, meine Mutter habe ich oft begleitet. Und ab 2000 habe ich regelmäßig anderen geholfen, beim Ausfüllen von Formularen, habe sie zu Behördengängen begleitet.

Gegenwind:

Wie war das denn in der Familie? Sie kamen mit 13 Jahren her, konnten kein Deutsch, Ihre Eltern lebten hier. Und bald haben Sie Ihre Eltern überholt. Gab das Probleme?

Özlem Cekici:

Das stimmt, ich habe sie überholt. Aber es gab keineswegs Probleme. Sie kamen ja zurecht, alle beide. Außerdem waren sie sehr stolz auf meine Fortschritte. Ich weiß aber nicht, wann ich sie überholt habe. Ich habe mich einfach weiterentwickelt, weitergebildet, und ich habe darüber nicht nachgedacht. Ich habe viel gelesen, ich war viel beschäftigt. Am Anfang brauchte ich für die Hausaufgaben sicherlich einige Stunden länger als meine Mitschüler, das habe ich immer in Kauf genommen. Ich wollte es schaffen und habe hohe Ansprüche an mich selbst gestellt.

Gegenwind:

Was hatten Sie für Freundinnen?

Özlem Cekici:

Sehr gemischt. In der Schule waren es eher deutsche Freundinnen. In meinem Umfeld gab es mehr türkische Freundinnen, ich hatte nur wenig Zeit, weil ich viel für die Schule machen musste. Ich bin aber bei Klassenfahrten mitgefahren und auf Geburtstagsparties gegangen, auch als ich noch sprachliche Probleme hatte. Die anderen kannten aber meine Probleme und hatten Verständnis.

Gegenwind:

Haben Ihre Eltern das gefördert, dass Sie überall hingingen?

Özlem Cekici:

Natürlich. Ich verdanke meinen Werdegang meinen Eltern, besonders meinem Vater. Ich habe noch zwei Geschwister, ein Bruder war mit in der Türkei und ist jetzt hier, meine Schwester ist hier aufgewachsen, aber im Moment lebt sie in der Türkei. Sie ist ausgewandert.

Gegenwind:

Welche Berufe kamen für Sie in der Schulzeit in Frage?

Özlem Cekici:

Für mich stand fest, dass ich studieren wollte, entweder Wirtschaftswissenschaften oder Jura. Vater hatte immer für Jura plädiert, und nachdem er gestorben ist, dachte ich: Er wollte mich als Juristin sehen, gut, dann will ich das jetzt.

Gegenwind:

Das ist ja für Mädchen in der Schule eher ungewöhnlich.

Özlem Cekici:

Warum? Nein, daran habe ich nie gedacht. Mir ging es immer darum, welche Berufe Chancen in der Zukunft haben.

Gegenwind:

Hatten Sie Vorbilder?

Özlem Cekici:

Ja, in der Familie. Meine Tante, mein Onkel in der Türkei sind Akademiker.

Gegenwind:

Wie war das Studium? Waren Sie die einzige Studentin mit türkischen Wurzeln?

Özlem Cekici:

Nein, es gab mehrere. Es war eine schöne Zeit. Man lernt viel, wird weltoffener und erweitert seinen Horizont.

Gegenwind:

Welche Gebiete interessieren Sie als Juristin?

Özlem Cekici:

In meiner Kanzlei bearbeite ich alle Rechtsgebiete, weil ich noch am Anfang stehe. Ich möchte mich noch nicht festlegen. Außerdem macht es mir sehr viel Spaß, verschiedene Gebiete und Fallgestaltungen zu bearbeiten.

Gegenwind:

Wie wollen Sie Ihre Sprachkenntnisse nutzen?

Özlem Cekici:

Ich habe jetzt bereits viele Mandanten mit Migrationshintergrund. Und ich merke sofort, dass es sehr wichtig ist, die Mandanten richtig zu verstehen und ihnen nah zu sein. Wenn die Leute die Sprache gut beherrschen, öffnen sie sich eher. Sie fühlen sich wohl, wenn sie hier türkisch sprechen können, und so entsteht schneller ein Vertrauensverhältnis. Das ist in meinem Beruf sehr wichtig.

Gegenwind:

Bieten Sie Ihre Dienstleistungen auch auf Türkisch an?

Özlem Cekici:

Bisher habe ich noch keine Werbung in türkischer Sprache gemacht. Ich weiß es auch noch nicht. Vielleicht lasse ich eine Kanzleibroschüre auf Türkisch erstellen und Zeitungsanzeigen in türkischer Sprache einschalten.

Gegenwind:

Spricht es sich rum, wenn eine türkische Studentin die Zulassung als Rechtsanwältin bekommt?

Özlem Cekici:

Ich gehe davon aus. Ich war zum Beispiel neulich beim Friseur, und meine Nachbarin sagte: "Sie sind doch die neue türkische Rechtsanwältin in Lübeck". Ich sagte: "Wir haben uns doch noch nie gesehen." Sie sagte dann: "Ich habe es aber gehört." Es wird wohl darüber gesprochen.

Gegenwind:

Haben Sie Sorgen, dass das Etikett "türkische Rechtsanwältin" auf deutsche Mandanten abschreckend wirkt?

Özlem Cekici:

Am Anfang hatte ich das gedacht, die Befürchtung hatte ich wirklich. Aber ich arbeite auch als Dozentin bei den Existenzgründungskursen der Wirtschaftsakademie, und ich habe gemerkt, das kommt gut an. Ich mache den juristischen Teil, stelle mich auch als Anwältin vor, und die Mehrheit der Existenzgründer besteht aus Deutschen. Ich bekomme dort ein sehr positives Feedback, werde oft nach meiner Visitenkarte gefragt. Zu meinem Mandantenkreis sollen sowohl Deutsche als auch Türken gehören. Ich lasse mich da auch nicht festlegen, ich mag kein Schubladendenken. Ich stecke niemanden in eine Schublade, ich mag selbst auch nicht so behandelt werden.

Gegenwind:

Was machen Sie jetzt hauptsächlich?

Özlem Cekici:

Als Rechtsanwältin mache ich zurzeit insbesondere Vertragsrecht, Mietrecht, Arbeitsrecht, Sozialrecht, Familienrecht, und natürlich auch Ausländerrecht.

Gegenwind:

Was haben Sie zwischen Studium und Zulassung als Rechtsanwältin gemacht?

Özlem Cekici:

Ich habe meine zweite Juristische Staatsprüfung in 2006 abgelegt. Danach habe ich in der Finanzdienstleitungsbranche gearbeitet, als Fonds-Analystin bei einer Rating-Agentur. Ich habe "Geschlossene Fonds-Analysen" erstellt. Da war das Gesetz auch unser Handwerk, das hilft mir jetzt auch als Rechtsanwältin. Es ging ja unter anderem um den Vertrag einer Fondsgesellschaft und um Wirtschaftsrecht, alles Anwendung von Gesetzen. In den zwei Jahren habe ich viel Erfahrung gesammelt und bin souveräner geworden. Ich hatte daher auch keine Angst mehr vor der Selbständigkeit.

Gegenwind:

Zurzeit gibt es eine öffentliche Diskussion über Einwanderer aus moslemischen Ländern. Ärgern Sie sich darüber, wenn ein Buchautor sagt, die sind dümmer und schaden Deutschland, oder haben Sie eher Mitleid?

Özlem Cekici:

Am Anfang war ich schon gekränkt. Aber dann habe ich überlegt, das ist eine Meinung unter vielen. Man muss sachlich diskutieren, um die echten Probleme zu erkennen und zu lösen. Ich fand es schade, dass man wieder mal über Leute mit Migrationshintergrund diskutiert, aber nicht mit ihnen. Die Pauschalisierung stört mich, man muss das differenzieren. Es wird auch immer an schlechten Beispielen diskutiert. Ich glaube, an guten Beispielen kann man mehr lernen. Aber die guten Beispiele mit Vorbildqualität gehen unter, werden völlig ignoriert. Diejenigen, die die deutsche Sprache gelernt haben, die etwas aus sich gemacht haben, werden nicht bemerkt. Die Fortschritte und die positiven Entwicklungen werden nicht auseichend honoriert. Ich denke nicht, dass ich dumm bin. Dann wäre ich sicher nicht so weit gekommen.

Gegenwind:

Man hätte das bei den Prüfungen in der Uni auch bemerkt.

Özlem Cekici:

Das denke ich auch. Von daher hat sich hier eine Person auf Kosten einer Minderheit profiliert, er hat sein Buch gut vermarktet. Es war ein cleverer Schachzug. In Ansätzen hat man vielleicht durch die Debatte ein paar Probleme erkannt, Parallelgesellschaften und ähnliches, vielleicht war man bislang auch zu bequem, einiges anzupacken. Und dass die deutsche Sprache ein Muss ist, da sind wir uns ja einig.

Gegenwind:

Kennen Sie hier in Lübeck denn Parallelgesellschaften?

Özlem Cekici:

Eigentlich nicht. Ich selbst nicht.

Gegenwind:

Sie können ja nicht nur Jura, sondern auch dolmetschen und übersetzen. Wie wollen Sie das in Zukunft beruflich nutzen?

Özlem Cekici:

Die Übersetzungstätigkeit will ich als Nebentätigkeit weiter machen, aber der Schwerpunkt ist die Arbeit als Rechtsanwältin. Mir macht es aber Spaß, schriftliche Übersetzungen anzufertigen. Gedolmetscht habe ich nicht professionell, sondern nur in der Nachbarschaft. Aber in meinem Beruf kommt es mir zugute, dass ich die türkische Sprache beherrsche, weil ich mit den Mandanten besser kommunizieren kann. Wenn sie sich gut verstanden fühlen, bleiben sie mir als Mandanten erhalten, und das ist schön.

Interview: Reinhard Pohl

Özlem Cekici
Rechtsanwältin & Urkundenübersetzerin für die türkische Sprache - OLG Schleswig
Hansestraße 43a, 23558 Lübeck, Tel.:0451/209 250 54
info@kanzlei-cekici.de / www.kanzlei-cekici.de

Zur Startseite Hinweise zu Haftung, Urheberrecht und Datenschutz Kontakt/Impressum