(Gegenwind 306, März 2014)

Klaus-Michael Bogdal: Europa erfindet die Zigeuner
Klaus-Michael Bogdal: Europa erfindet die Zigeuner. Eine Geschichte von Faszination und Verachtung. Suhrkamp Verlag, Berlin 2011, 3. Auflage 2013, 590 Seiten, 24,90 Euro

Buch

Wilde Vagabunden, geborene Verbrecher

In diesem Buch geht es nicht um die Roma in Europa als reale Personen. In diesem Buch geht es um die Bilder anderer, die Konstruktion der Zigeuner, wie sie seit 600 Jahren entstanden ist und immer weiter ausgebaut wurde und wird.

Es handelt sich um Diebe und Lügner, um Wilde und Asoziale, um Fahrende und Entführer. Aber es handelt sich auch um unverdorbene Naturmenschen, um schöne Frauen und stolze Männer, um Menschen, die ein intaktes Verhältnis zur Natur und einen zuverlässigen Familienzusammenhalt haben.

Seit 600 Jahren leben Romavölker in Europa, ihre Herkunft wurde ursprünglich in Ägypten oder „Klein-Ägypten” (im heutigen Griechenland) vermutet. Im Mittelalter kursierten viele Geschichte, die eine „Vertreibung aus Ägypten” mehrere Tausend Jahre nach der Vertreibung der Israelis vermuteten. Andere sahen in ihnen von vornherein eine Bedrohung, es handele sich um Vorboten und Spione entweder der Türken oder der zentralasiatischen Tataren. In Skandinavien und Teilen von Norddeutschland werden Roma bis heute „Tatern” genannt, in Großbritannien und Irland heißen sie „Ägypter”.

Seit ihrer Ansiedlung in Europa wurden sie häufig verfolgt und vertrieben, was die spätere Vermutung begründete, sie wären nicht sesshaft, ihre Flucht wurde als „Wandern” gedeutet. Vor allem in Rumänien war es anders, sie wurden in das dort herrschende (Agrar-)System integriert, als Leibeigene der Großgrundbesitzer - eine Ursache dafür, dass dort heute die meisten Roma, die größte Minderheit leben.

Durch die häufigen Vertreibungen im restlichen Europa, auch bedingt (oder gerechtfertigt) durch die Beschuldigung der Spionage für die Türken, übten Roma oft Berufe im Handel und Handwerk aus, die das Wandern von Ort zu Ort voraussetzten. Sie waren Schmiede und Metallhändler, Pferdehändler oder betrieben verschiedene Gewerke eines Jahrmarktes wie Vorführungen von Tanzbären oder die Wahrsagerei.

Insbesondere in der Literatur spielte oft die „schöne Zigeunerin” eine wichtige Rolle, sei es die kämpferische Carmen, die auch gefesselt keineswegs wehrlos ist, sondern immer noch Polizisten und Soldaten verführen kann. Sei es Esmeralda, die Offiziere und Bischöfe gegeneinander ausspielt.

Doch je weniger man über dieses Volk wusste, desto interessanter wurden die Geschichte, die verbreitet wurden. So gibt es viele Schilderungen von „Zigeunerreichen” mit „Zigeunerkönigen”, die insgeheim über viele Menschen herrschen und sie aussenden, um zu stehlen oder zu betrügen - allerdings müssen sie angeblich später ihre Beute abliefern, damit ihr König immer reicher und reicher wird.

Zahlreich sind auch die Fantasien über Entführungen. Sie entstanden vor allem in der Zeit, als die Obrigkeiten in der Entstehung von Nationalstaaten bestimmte Territorien kontrollieren wollten und damit alle Menschen, die sich dort aufhielten. Schulen und Erziehungsanstalten wurden gebaut, und unbotmäßigen Untertanen wurden die Kinder zur staatlichen Erziehung weggenommen. Berüchtigt war hier Österreich-Ungarn zur Zeit von Kaiserin Maria-Theresia - aber die Geschichte von durch Zigeuner entführte Kinder haben sich bis heute gehalten.

In Osteuropa wurden nach dem Zweiten Weltkrieg Roma teilweise als „eigenes Volk” in das sozialistische System eingeordnet, dort gibt es Geschichten von Partisanen und Arbeiterführern, die aus der Roma-Bevölkerung stammen und natürlich als bisher Unterprivilegierte fest auf der Seite der Arbeiterklasse stehen. Tatsächlich bekamen Roma in Osteuropa den relativ besten Status, was Schulbesuch oder Ausbildung und Arbeitsplätze betrifft.

In Westeuropa und insbesondere in Deutschland ist das Bild nach 1945 zwiespältig. Einerseits wurden Zigeuner auch in der Literatur nach 1945 weiterhin als Diebe und Asoziale dargestellt. Andererseits gab es zumindest stellvertretende Erinnerungsliteratur, mit der sie als Opfer von Verfolgung und Vernichtung vorgestellt wurden.

Literatur von Sinti und Roma gibt es nur sehr wenig, bedingt durch den weitgehenden Ausschluss aus dem Bildungssystem und damit auch aus der kleinen Gruppe der Literaturschaffenden. Im wesentlichen bedurfte es wohl der Ausstrahlung der Fernsehserie „Holocaust”, um zumindest Zeitschriftenartikel und biografische Interviews in größerer Zahl anzuregen und ihnen auch den Platz in der veröffentlichten Presse zu geben. Bis dahin gab es immerhin Bücher wie „Auschwitz. Ein Tatsachenbericht” von Lucie Adelsberger, die als jüdische Ärztin und KZ-Insassin im „Zigeunerlager Birkenau” eingesetzt wurde. 2001 erschien „Auf Wiedersehen im Himmel”, die Lebensgeschichte von Angela Reinhardt, die aber von Michael Krausnick aufgeschrieben wurde. 2008 veröffentlichte Dotschy Reinhardt aus Ravensburg das Buch „Gypsy. Die Geschichte einer großen Sinti-Familie”.

Fast 600 Seiten stark, teils nicht einfach zu lesen und mit Hunderten von Anmerkungen, die auch noch als „Suchspiel” gestaltet sind (alle stehen am Schluss, werden aber nicht durchnummeriert) - Autor und Verlag muten uns viel zu. Aber die Mühe lohnt sich. Denn es ist kein Buch über Roma, sondern ein Buch über uns, die anderen.

Reinhard Pohl

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