(Gegenwind 310, Juli 2014)

Euromaidan. Was in der Ukraine auf dem Spiel steht
Euromaidan.
Was in der Ukraine auf dem Spiel steht.
Edition Suhrkamp, Berlin 2014,
207 Seiten, 14 Euro.

Buch

Ukrainische Proteste

Heiß diskutiert wird in Deutschland die Situation in der Ukraine. Das Land, zerrissen zwischen EU und Russland, zwischen Assoziierungsabkommen und Zoll-Union, ist vom Umbruch in den Bürgerkrieg gerutscht. Die EU-Kommission will die enge Anbindung an die EU, Russland will die Mitgliedschaft in der geplanten „Eurasischen Union”, die USA wollen die NATO-Mitgliedschaft. Die Bundesregierung ist hinsichtlich eines EU-Beitritts oder NATO-Beitritts äußerst distanziert, sie will eine Anbindung der Ukraine, ohne die Rohstoff-Lieferungen aus Russland zu gefährden.

In diesem Buch geht es um etwas ganz anderes: Meinungen und Wünsche aus der Ukraine. Die Autorinnen und Autoren gehören zu den oppositionellen Gruppen, die im Herbst 2013 die Proteste gegen die autoritäre und korrupte Regierung organisiert haben. Sie kommen aus der Phase der Proteste, als Vertreter von Parteien bei den Protesten noch nicht zugelassen waren und sich Organisationen wie der „Rechte Sektor” noch nicht gebildet hatten.

Die meisten sind enttäuscht von der Entwicklung, aber auch von den Reaktionen aus Europa. Die meisten haben eine Haltung zur EU, die hier nur wenige verstehen, obwohl sie in den EU-Nachbarstaaten weit verbreitet ist: Die EU wird bewundert, und im Vergleich zur eigenen Regierung, dem eigenen Justizsystem, dem eigenen Bildungssystem, dem eigenen Wirtschaftssystem fast ausschließlich positiv gesehen. Das ist erklärbar, unterscheidet es sich doch kaum von der Haltung der studentischen Jugend in Tunesien, Ägypten oder Syrien. Dabei wird vieles ausgeblendet, zum Beispiel wird in den verschiedenen Beiträgen nicht über die Interessen der EU und die Folgen des Einsatzes ihrer Instrumente diskutiert. So ist eine Kreditvergabe auch immer mit harten Bedingungen verbunden, die allerdings diese Aktivisten persönlich relativ wenig betreffen.

Die demokratische Opposition steht auch in einem Dilemma, das unlösbar ist: Sie protestieren gegen das autoritäre und korrupte System, in der Situation im November / Dezember 2013 sind diese Proteste aufgrund der Regierungspolitik „von selbst” explodiert. Demonstrationen mit über 500.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern kamen auch für die Aufrufenden vollkommen unerwartet, auch hier ähnelt die Situation der in Ägypten oder Syrien. Aber individuell können sich viele eben keine Zukunft in ihrem Land vorstellen, habe die Hoffnung auf die gewünschten Veränderungen aufgegeben. Viele wählen, wenn es denn eine Wahl gibt, das „kleinere Übel”, um dann persönlich ein Visum für ein Studium, eine Visum für ein Jahr in einem Freiwilligendienst oder anderes zu beantragen. Andere versuchen, Kontakte mit Touristen zu bekommen, um ggf. durch eine Heirat der Situation zu entkommen. Hauptsache, man kann persönlich in die EU, wenn schon das Land keine Chance hat.

Einige der Autorinnen und Autoren versuche, in diesem Sammelband den Leserinnen und Lesern einen Eindruck der für sie persönlich unerträglichen Situation zu geben. Sie beschreiben die Regierung und ihr System, mit Protesten umzugehen, zu entstehenden Oppositionsparteien sogenannte „Phantomparteien” mit ähnlichem Namen zu gründen, die sich teils verselbständigen, teils wieder eingehen. So ist eine Partei wie die „Partei der Regionen” hierzulande schwer zu verstehen: Eine Partei ohne echtes Programm, eine Art Bündnis von Kandidaten des Establishments zur Organisation der persönlichen Karriere. Sie machen einen vorbestraften Nicht-Politiker zum Präsidenten, der ihnen entgleitet und das Amt zur persönlichen Bereicherung nutzt, den Staat ruiniert. Im entscheidenden Moment verliert er die Nerven und flieht, seine Partei, immerhin die stärkte Partei im Parlament, bricht innerhalb von Stunden zusammen, die Abgeordneten wählen neue Repräsentanten, die formell das Gegenteil vertreten.

Am besten können diejenigen Autorinnen und Autoren etwas davon erklären, die als Studenten bereits in Deutschland oder Österreich wohnen und sich vorstellen können, was daran hier nicht verständlich ist. Diese beschweren sich aber auch am meisten über hiesige Reaktionen der Linken, von denen sie sich am Anfang Unterstützung erhofft haben (und teils bis heute bekommen): In vielen Stellungnahmen werden die Nationalisten, die ab Dezember die Proteste Schritt für Schritt begannen zu dominieren, als Initiatoren gesehen, teils werden nur sie gesehen. Das wird teils als neuer Kolonialismus der EU-Linken gesehen: Allen Protestesten gegen die Oligarchie wird unterstellt, sie sei von westlichen Parteistiftungen oder von Putin initiiert und letztlich ferngesteuert. Aus vielen Stellungnahmen lesen Ukrainerinnen und Ukrainer das Vorurteil, es könnte keine denken Menschen in der Ukraine geben, sondern nur ferngesteuerte Erfüllungsgehilfen.

Wenig thematisiert wird der tatsächliche Einfluss des Nationalismus in der Ukraine. Einerseits ist das Buch vor den beginnenden Kämpfen in der Ostukraine abgeschlossen worden. Andererseits sind viele der Autoren aber mehr mit einer von ihnen beobachteten Überbewertung und fehlenden Differenzierung beschäftigt. Sie sehen zumindest einen Teil des Nationalismus als bloße Reaktion, auch natürlich Reaktion auf die recht unverschämte Einmischung Russlands in der Ukraine, vor allem weil das russische Regierungssystem und die russische Korruption eben keine Alternative zum eigenen System darstellt, das man ja bekämpft, und damit der russischen Regierung in weiten Teilen reiner Selbstschutz unterstellt wird. Man sieht die Präsidenten und die großen Wirtschaftsunternehmen beider Länder als Verbündete, sich selbst als demokratische Opposition sieht man als „natürliche” Verbündete der russischen (städtischen) Opposition, und ist enttäuscht über Linke aus der EU, die offen Sympathien für „strategische Interessen” Russlands zeigen.

Charakteristisch ist auch, dass die Autorinnen und Autoren kaum Vorstellungen von einer Zukunft haben. Bei den meisten reicht die Phantasie nicht, sich eine Veränderung der Ukrai-ne vorzustellen, weil sie daran nicht glauben. Die verschiedenen Veränderung der letzten Zeit, angefangen mit der Auflösung der Sowjetunion, haben die eigene Situation selten verändert. Die Proteste, Demonstrationen, Regierungswechsel haben immer Machthaberinnen und Machthaber in den Präsidentenpalast und die Ministerien gebracht, die die eigenen Versprechen brachen und sich im System eingerichtet haben. Da ist ein neues Stipendienprogramm der EU, das für die persönliche Zukunft nützlich sein kann, eben weitaus interessanter.

Wenn es einen Wunsch für die Zukunft gibt, dann den, in Ruhe gelassen zu werden. Sie wünschen sich, dass die Ukraine von Russland in Ruhe gelassen werden, sie selbst wollen von ihrer Regierung (wer immer die stellt) in Ruhe gelassen werden. Und auch hier wird „Europa” zum (idealtypisch dargestellten) Modell.

Wichtig ist das Buch, weil es nicht europäische oder russische Ansichten über die Ukraine darstellt, sondern, und das ist selten genug, ukrainische Ansichten über die Ukraine. Man muss nicht mit allen übereinstimmen, aber man sollte sie lesen und zur Kenntnis nehmen.

Reinhard Pohl

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