(Gegenwind 346, Juli 2017)


Meredith Tax: Auf einem unwägbaren Weg. Die Frauen im kurdischen Freiheitskampf. Unrast Verlag, Münster im Mai 2017 (US-Original: April 2016). 324 Seiten, 19.80 Euro

Buch

Kurdistan wird weiblich

Es begann mit dem Kampf um Kobane: Fernsehen, Radio, Zeitungen zeigten kurdische Kämpferinnen und Kämpfer, die die Stadt oder die letzten Häuser der Stadt, die noch nicht besetzt waren, gegen die weit überlegenen Truppen des „Islamischen Staates” zu verteidigen. Und plötzlich waren alle Medien voll mit Bildern von jungen Frauen mit schweren Waffen, die an vorderster Front kämpften und starben. Und es stellte sich heraus, dass die Medien natürlich junge Frauen gerne und lieber fotografieren als junge Männer - dass die Frauen an der Front aber tatsächlich mit 40 Prozent den höchsten Anteil aller Armeen weltweit erreichen. So kam die Autorin darauf, die Situation der Frauen in Kurdistan zur Ausgangsfrage ihres Buches zu machen.

Die Autorin betrachtet die Geschichte der Kurden, vor allem der Kurdinnen in der Türkei und in Syrien, die Situation im Irak wird nur gestreift, die im Iran kaum behandelt. Es geht also um die beiden Länder, in denen die PKK unter der Führung von Abdullah Öcalan dominiert. Und Öcalan hat 1984 den Kampf für die Unabhängigkeit Kurdistans als bewaffneten Kampf gegen die Türkei aufgenommen, die er als „Kolonialmacht” identifiziert hatte. Die Theorie der Bewegung folgte dem Marxismus und Leninismus, die Organisation war hierarchisch aufgebaut - das eher nach den Prinzipien des Stalinismus.

Anfang der 90er Jahre geschah es noch öfter, dass „Abweichler”, Kritiker des PKK-Anführers Öcalan, hingerichtet wurden. Oder ermordet, ganz wie man das sieht. Das war allerdings kein exklusives Vorgehen der PKK, die KDP von Barzani im Irak sorgte auch durch Hinrichtungen der internen Kritiker immer wieder für die Einstimmigkeit von Beschlüssen.

Nach der Entführung von Abdullah Öcalan aus Kenia 1999 und seiner Inhaftierung in der Türkei änderte sich einiges. Die Autorin beschriebt, dass sich jetzt die Führungsstrukturen auffächerten. Die Feldkommandanten bekamen ganz natürlich größeren Spielraum, der Präsident konnte nur noch durch Gespräche mit seinen Verteidigern Nachrichten nach außen transportieren, also nur noch die „großen Linien” des Befreiungskampfes bestimmen - und die Organisation war freier darin, den Anweisungen zu folgen oder auch nicht.

Und die Organisation änderte sich genauso wie der Charakter des Kampfes. Denn Öcalan entwickelte neue, veränderte Theorien: Der Nationalstaat sei überholt, schrieb er jetzt (ausführlich in der Klagebegründung an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte). Damit ging es auch nicht mehr um die Unabhängigkeit Kurdistans, die Bekämpfung der Türkei. Es ging um die Befreiung der Menschen, unabhängig davon, ob sie kurdisch, armenisch, türkisch, assyrisch oder auch arabisch waren. Und hier setzte Öcalan auch einen neuen Schwerpunkt: Nicht mehr die Arbeiterklasse sollte der Motor der Befreiungsbewegung sein. Die Frauen seien es, die in der Gesellschaft am stärksten unterdrückt würden, also müsste auch die Befreiung der Frauen im Mittelpunkt des Kampfes um die Freiheit für alle Menschen stehen.

Seitdem haben die Organisationen, die den Ideen von Abdullah Öcalan folgen - und das ist keineswegs nur die PKK - nicht nur das Ziel, in allen Positionen „Doppelspitzen” einzurichten. Das bedeutet, dass jede Führungsposition mit einer Frau und einem Mann besetzt wird. Überall werden auch eigene Frauenorganisationen eingerichtet, so bei den militärischen Formationen. Die PYD, die den Kampf in Syrien anführt, bildete zur Verteidigung des Gebietes und Kobanes zwei bewaffnete Organisationen: Der YPG (Volksverteidigungskräfte) können alle beitreten, die YPJ (Frauenverteidigungskräfte) besteht nur aus Frauen. Das ist auch ein Stück Selbstkritik, denn oft sind örtlich bei den durch eine Doppelspitze geführten Organisationen, seien es Gewerkschaften oder Stadtteilkomitees oder Jugendorganisationen, nur die männliche Führer namentlich bekannt, auch wenn man weiß, dass es eine formell gleichberechtigte Frau an der Spitze gibt. Das kann in der YPJ nicht passieren, hier müssen Frauen die tatsächliche Führung übernehmen, weil Männer der Kampftruppe nicht angehören.

Öcalan entwickelte jetzt das Konzept des „demokratischen Föderalismus”: Örtlich werden Räte eingerichtet, die nicht mehr die „kurdische Bevölkerung” vertreten, sondern die Bevölkerung. In Nord-Syrien sind Kurdisch, Arabisch und Assyrisch (Aramäisch) gleichberechtigte Sprachen, in den Räten sollen entsprechend Kurdinnen und Kurden, Araberinnen und Araber, Assyrerinnen und Assarer vertreten sein.

Die HDP in der Türkei versteht sich auch, im Gegensatz zur hiesigen Presse-Berichterstattung, nicht mehr als „kurdische Partei” oder „Partei der kurdischen Minderheit”, sondern als Partei der Völker der Türkei, Partei der Minderheiten, Partei des Umweltschutzes und insbesondere als Partei der Frauen.

Das ist das Schwerpunktthema des Buches: Die Beteiligung der Frauen. Die Autorin beschreibt die Rolle der Frauen im kurdischen Kampf der 80er, der 90er Jahre und dann in diesem Jahrtausend. Die theoretische Grundlage lieferte Öcalan 2003 - aber genau das zog dann 2014 den „Islamischen Staat”, von den Kurdinnen und Kurden auch lieber als „Daesh” bezeichnet, an: Dem Modell des IS widerspricht das Modell des „"Demokratischen Föderalismus” in Rojava (Westkurdistan / Syrien) diametral. Der IS ist zentralistisch, Rojava besteht aus drei oder vier Kantonen, die jeweils sich selbst regieren. Der IS ist religiös, Rojava ist säkular, man darf hier Muslim oder Christ oder Jeside oder religionslos sein. Der IS wird von einem Mann geführt, dem „Kalif”, Rojava hat auf allen Ebenen eine Doppelspitze und eine Frauenquote für alle Gremien.

Die Autorin spricht aber auch kritische Fragen an: Es gibt in Kurdistan / Türkei (Bakur) ebenso wie in Kurdistan / Syrien (Rojava) einen ausgeprägten Personenkult, überall hängen Bilder von Abdullah Öcalan. Die weiblichen Mitglieder der Doppelspitzen sind vielerorts kaum bekannt. Frauen reden bei den Versammlungen auffällig wenig. Man sieht kaum weibliche Autofahrerinnen, es gibt kaum Firmengründerinnen in Rojava. Man weiß auch kaum, wie Meinungsverschiedenheiten in Rojava gelöst werden: Gibt es wirklich offene Diskussionen und Abstimmungen? Oder gibt es Anweisungen der PKK-Zentrale in den Kandil-Bergen? Die Autorin sieht die Schwierigkeiten, demokratische Prozesse in einem Krieg zu etablieren, und rät dazu, die Entwicklung kritisch zu beobachten, wenn der Krieg vorbei ist. Aber sie legt sich vollkommen fest, auf welcher Seite sie steht.

Reinhard Pohl

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