(Gegenwind 385, Oktober 2020)

Nura El-Ghandour

„Ich war ganz fassungslos. Ist das echt?“

Zurück aus dem Libanon

Nura El-Ghandour, Studentin aus Kiel, flog nach der Explosion im Hafen von Beirut dorthin, um zu helfen. Die Explosion eines Lagerhauses, in dem unter anderem Ammoniumnitrat lagerte, hatte Hunderte von Häusern zerstört, rund 200 Menschen getötet und Tausende verletzt. Das Interview gab sie kurz nach ihrer Rückkehr.

Gegenwind:

Du bist jetzt nach Beirut geflogen. Warum hast Du das gemacht?

Nura El-Ghandour:

Die Situation nach der Explosion in Beirut hat uns natürlich alle erschüttert. Ich habe auch Wurzeln im Libanon, ich habe einen Bezug zu Beirut. Diese Bilder zu sehen und diese Eindrücke mitzubekommen hat mich natürlich total runtergezogen. Wir waren alle sehr mitgenommen. Und ich hatte die Möglichkeit zu sagen, ich flieg da runter und helfe. Ich habe natürlich die Chance genutzt, habe auch nicht lange gefackelt und habe mich entschieden, bin runtergeflogen, um vor Ort Hilfe leisten zu können.

Gegenwind:

Was sind Deine Bezüge zum Libanon?

Nura El-Ghandour:

Meine Eltern sind damals aus dem Bürgerkrieg 1990 nach Deutschland geflüchtet. Ich bin hier geboren. Allerdings haben wir auch noch ganz viel Familie im Libanon und sind auch so gut wie jedes Jahr hingereist. Ich bin immer mal vor Ort gewesen.

Gegenwind:

Kanntest Du auch die Gegend, die jetzt zerstört worden ist?

Nura El-Ghandour:

Ja, die kannte ich ziemlich gut. Dort gibt es ja eine Hauptstraße, auf der wir oft daran vorbeigefahren sind. Der Hafen streckt sich ja sehr in der Länge, aber vom Highway her habe ich alles oft gesehen. Der Hafen ist ziemlich groß, aber wir sind dort oft unterwegs gewesen, wenn wir dort im Urlaub waren. Vielleicht nicht direkt dort, weil dort die Güter rein und raus gehen. Aber ein Stückchen weiter auf jeden Fall. Mit dem Ort und dem Hafen bin ich sehr vertraut, vor allem mit den Vierteln dahinter. Da gibt es Mar Mikhail, einen der bekanntesten Orte dort, wo man auch abends etwas trinken gehen kann, ausgehen kann, und Gemayze, auch sehr bekannt, Ashrafie, das sind alles so die Gegenden, die besonders viel abbekommen haben. Das waren sehr beliebte Orte in Beirut.

Gegenwind:

Erinnerst Du Dich noch, wie Du davon erfahren hast?

Nura El-Ghandour:

Ja, ich habe tatsächlich eine Eilmeldung auf Handy bekommen von einer App und war ganz überrascht, dass Beirut vorkommt. Es ist zwar in den letzten Monaten viel passiert, was interessant gewesen ist, aber bei der Eilmeldung war mir klar, da muss mehr dahinter stecken. Und dann bin ich ins Internet und durch die sozialen Medien gegangen und habe mich ein bisschen informiert und habe die Videos gesehen. Ich war erstmal wie in so einer Blase, war total eingenommen, habe Bilder und Videos angeguckt.

Passiert das gerade wirklich? Sind das Bilder aus Beirut? Ich war ganz fassungslos. Ist das echt?

Gegenwind:

Wie war es mit Deinen persönlichen Kontakten? Zu der Zeit war Deine große Schwester ja in Beirut.

Nura El-Ghandour:

Genau, meine große Schwester war gerade dort. Sie war am selben Tag auch noch am Hafen vorbeigefahren, glücklicherweise zu einer anderen Uhrzeit. Sie hat das mitbekommen, war gerade ein bisschen außerhalb. Es hat alles gewackelt in der Hotelanlage. Wir haben mit der Familie vor Ort gesprochen. Sie sagten, sie wüssten gar nicht, was um sie herum geschieht. Sie wussten nicht, ob das ein Erdbeben ist, ein Erdrutsch, ein Anschlag - es ging ganz viel in den Köpfen der Leute vor, sie wussten nicht, was geschieht. Ich glaube, dass ist für die Menschen am schlimmsten gewesen, nicht zu wissen, was da gerade passiert.

Gegenwind:

Es gab ja einen langen Krieg. Können die Leute immer noch Explosionen erkennen und unterscheiden?

Nura El-Ghandour:

Wir haben ganz viele Rückmeldungen bekommen. Viele haben gesagt: Ich habe vieles erlebt, den Krieg miterlebt, Anschläge im Land miterlebt, aber sowas habe ich noch nicht erlebt. Die können schon unterscheiden, auch von der Intensität, aber dies konnten viele Leute gar nicht zuordnen. In einem Moment sind die Häuser zusammengebrochen, und die Leute sind schreiend auf die Straße gerannt, da wussten sie tatsächlich nicht, was es ist. Sie wussten nicht, was um sie herum geschieht.

Gegenwind:

Wann bist Du auf die Idee gekommen, dass Du selbst etwas machen kannst?

Nura El-Ghandour:

Da meine Schwester vor Ort war und auch schon viel vor Ort geleistet hat, die Nothilfe mit angegangen ist, und wir immer wieder in Kontakt zueinander waren, und sie mir ein paar Tage später sagte, es gäbe die Möglichkeit, wenn jemand helfen möchte, dass sie oder er runterfliegen kann, habe ich nicht lange gefackelt. Es war wirklich schon ein paar Tage nach der Explosion.

BYERUT

Gegenwind:

Konntest Du einfach so weg? Oder ist das in solch einem Moment egal?

Nura El-Ghandour:

Ich hatte Glück, dass die Umstände es zugelassen haben. Ich bin aber auch ehrlich: Wenn die Umstände es nicht zugelassen hätten, hätte ich trotzdem alles daran gesetzt, dass es geklappt hätte.

Gegenwind:

Wenn Du in Beirut ankommst und dort mit den Leuten Hilfe organisierst - bist Du für die Leute dort eine Libanesin oder eine Deutsche?

Nura El-Ghandour:

Interessante Frage. Es ist tatsächlich so, dass ich im Libanon sowohl als auch bin - mehr aber eine Deutsche. Weniger Libanesin, mehr Deutsch, auch wegen der Tatsache, dass ich zwar fließend Arabisch spreche, auch gut kommunizieren kann, allerdings höre ich oft, dass ich gebrochenes Arabisch spreche, die Leute bekommen das schon mit. Dementsprechend werde ich als Deutsche zugeordnet. Was allerdings das Helfen, das Koordinieren, das Organisieren angeht, bin ich komplett Deutsche. Das ist ganz klar, die Art wie wir arbeiten miteinander, wie wir uns organisieren, das besprechen und machen, das war ganz klar die deutsche Art. Das wurde auch so angenommen.

Gegenwind:

Wird auf Dich gehört, weil die Deutsche ja organisieren kann?

Nura El-Ghandour:

Ja. Wir hatten tatsächlich auch Organisationen, die sich gerne bei uns abgeguckt haben, wie wir gearbeitet haben. Sie wollten sich auch gerne mit uns zusammentun, was aber nicht unsere Absicht war. Doch, das wird schon gesehen, das wird auch gerne angenommen.

Gegenwind:

Wie hast Du Dich vorbereitet? Du hattest ja nicht nur Dein Erspartes von Studentenjobs.

Nura El-Ghandour:

Finanziell hatte ich das mitgenommen, was gerade so da war. Es gab Spenden, und auch aus der Familie habe ich hier und da noch eine Geldspritze mitbekommen. Aber viel vorbereiten konnte ich eigentlich gar nicht. Ich habe viel Rückmeldungen bekommen, dass dort ein großes Chaos herrscht. Das bekam ich sowohl von Organisationen als auch von meiner Schwester zu hören, auch von Leuten, die ich dort kenne. Ich habe mich einfach auf alles eingestellt.

Gegenwind:

Wenn sowas hier passieren würde, dann würdest Du zuerst gucken, was macht der Ministerpräsident, was macht der Oberbürgermeister. Kann man in Beirut auch eine Regierung erkennen?

Nura El-Ghandour:

Das ist eben der Luxus, den wir hier haben. Wir wissen immer, es ist eine Hand über uns, die weiß, was zu tun ist. Die auch wissen, was das Richtige ist. Das kann man im Libanon nicht erwarten. Die Leute sind sowas von enttäuscht, und „enttäuscht“ ist immer noch milde ausgedrückt, von der Regierung und davon, dass sich wirklich keiner von denen mal hingestellt hat, getrauert hat, geholfen hat, Hilfe angeboten hat und irgend so etwas wie einen Plan für diese Situation hatte. Das ganze Volk war auf sich gestellt. Und so haben sie es auch nur gemeistert, Hand in Hand, miteinander, da war keine Regierung mit im Spiel.

Gegenwind:

Wie haben die Leute, mit denen Du zu tun hattest, die Regierung beurteilt?

Nura El-Ghandour:

Da ist nur Hoffnungslosigkeit. Die Leute sind nur noch auf sich eingestellt. Wir hatten ja den Aufstand im Libanon, wir hatte Proteste, weil es in der letzten Zeit sehr hart war im Libanon. Die Menschen, die protestiert hatten, hatten eine gewisse Hoffnung, es wird irgendwas, wenn dieser hier abtritt oder das passiert. Aber mittlerweile sind sie alle so gedemütigt, am Boden zerstört, da kam nicht ein Funken Hoffnung. Mit der Regierung haben die Leute abgeschlossen, die Menschen sehen nichts mehr in ihrer Regierung, wirklich nichts.

Gegenwind:

Hast Du in Deiner Zeit in Beirut mitbekommen, dass ausländische Politiker zu Besuch waren? Wie wurde das aufgenommen?

Nura El-Ghandour:

Ich habe es leider nicht vor Ort mitbekommen, aber durch die Medien habe ich es natürlich mitbekommen. Heiko Maas war ja vor Ort, Emmanuel Macron war ja mittlerweile schon zweimal vor Ort. Was ich rückgemeldet bekommen habe von den Leuten, bei Macron waren sie zwiegespalten. Einerseits sind die Leute unheimlich dankbar, dass jemand kommt und auch mal hört, was gesagt wird, und ihnen Hilfe verspricht, die Leute kommen jetzt ja aus den tiefsten Tiefen. Und sie halten sich an jedem kleinen Hoffnungsschimmer, den es gibt, natürlich fest. Wenn Macron kommt und etwas verspricht, ist natürlich die Freude groß. Aber die Angst ist auch da: Passiert das wirklich, wird das auch so eingehalten? Können wir etwas auf dieses Versprechen geben? Können wir überhaupt irgendwelchen Regierungschefs noch vertrauen?

Gegenwind:

Kannst Du beschreiben, was Du in Beirut gemacht hast?

Nura El-Ghandour:

Wir haben wirklich alles gemacht. Wir haben das gemacht, was notwendig ist. Wir sind zu den Leuten gegangen, wir sind in die Häuser gegangen, wir sind zu den Familien gegangen. Wo Babynahrung gebraucht wurde, haben wir Babynahrung besorgt. Wir haben Autoscheiben repariert, damit man wieder zur Arbeit fahren konnte. Wir haben Wohnungen ausfindig gemacht für Familien, die obdachlos geworden sind und in einer Notunterkunft lebten. Wir haben ihnen Mieten im Voraus gezahlt, so dass sie für die ersten Monate abgesichert sind, bis sie sich selbst wieder auf die Beine bringen können. Ganz viel Medizin haben wir auch besorgt. Wir hatten Kleidung dabei. Wirklich alles, was gerade so notwendig war, in vielen Familien, haben wir auch ermöglicht. Geldspenden wollten wir nicht weitergeben, aber wenn es hart auf hart kam, wenn eine Familie wirklich am Limit war, haben wir auch Bargeld gegeben. Sonst haben wir so gearbeitet, dass es auch nachhaltig ist. Wenn irgendwo die Herdplatte kaputt ist, dann haben wir kein Dosenessen gegeben, sondern einen neuen Herd, damit die Leute wieder im eigenen Zuhause kochen konnten. Wir haben Möbel ersetzt, Fensterscheiben ersetzt, Eingangstüren ersetzt. Das Chaos ist so groß, entsprechend auch das Leid, die Bedürfnisse, die Notwendigkeiten, da gab es von allem etwas.

Gegenwind:

Hast Du andere getroffen, die wie Du auch einfach hingeflogen sind, um zu helfen?

Nura El-Ghandour:

Ja, wir haben uns tatsächlich auch zu einer Gruppe zusammen getan. Meine Schwester hatte das vorab in Sozialen Medien angekündigt und koordiniert. Ich habe mich vor Ort mit drei Mädels getroffen, die auch aus Deutschland gekommen sind, jede aus einer anderen Ecke, wir haben uns als eine Gruppe zusammen getan und haben das dann gemeinsam gemacht. Wir haben geholfen, wie es möglich war.

Gegenwind:

Hast Du den Eindruck, dass durch Euch etwas entstanden ist, was auch weiter existiert?

Nura El-Ghandour:

Auf jeden Fall. Wir haben immer noch die Kontakte, die werden wir auch weiterhin pflegen. Wir kooperieren weiter miteinander und auch mit Menschen vor Ort. Wir haben auch Kontakte zu Organisationen. Wir bekommen auch immer wieder Fälle rein: Hier ist die Familie Sowieso, hier die Adresse, die benötigen dies und das. Wir haben immer jemanden vor Ort, die oder der die anrufen kann, sich vor Ort trifft, guckt was man da helfen kann. Wo die Not gerade besonders groß ist. Es ist immer jemand vor Ort, es ist immer eine Deutsch-Libanesin oder eine Deutsche vor Ort. Und wir haben Locals, die dort vor Ort leben, und meine Schwester wird auch bald wieder hin fliegen. Ich habe auch den Wunsch, hinzufliegen. Wir koordinieren dass, dass immer jemand da sein kann. Wir wollen die Hilfen weiterhin fortführen, und zwar die Hilfen hier aus Deutschland.

My government did this

Gegenwind:

Hast Du Hoffnung, dass der Libanon irgendwann eine Regierung oder Verwaltung hat und mit solchen Problemen aus eigener Kraft fertig werden kann?

Nura El-Ghandour:

Das ist ziemlich schwierig, in der jetzigen Lage viel Hoffnung zu schöpfen. Allerdings sind meine Emotionen und meine Gedanken gerade eher beim Volk als bei der Regierung. Ich habe gerade nur die Hoffnung, dass wir es hinkriegen, dass die Menschen untergebracht sind. Dass es ihnen einigermaßen gut geht, dass sie Essen auf dem Tisch haben. Dass sie Kleidung haben. Da sind meine Gedanken. Was die Regierung angeht, das fühlt sich soweit entfernt an, gar nicht greifbar, schwierig. Die Hoffnung stirb zuletzt. Aber den Wunsch habe ich auf jeden Fall. Aber es sieht sehr schwierig aus. Ich denke nicht, dass in nächster Zeit eine Lösung parat sein wird, die alle zufrieden stellen wird.

Gegenwind:

Hast Du für Dich einen Plan, wie Du in den nächsten Monaten weiter machst?

Nura El-Ghandour:

Mein Plan ist auf jeden Fall, dieses Projekt weiter zu führen. Ich will auch weiterhin von Deutschland aus aktiv bleiben. Ich habe hier Kontakte zu den Leuten eingerichtet, wir stehen ständig im Kontakt auch zu denen, denen wir bereits geholfen haben. Wir koordinieren das vor Ort mit denen, die dort Hilfe leisten. Wir bringen uns alle ein, jede aus ihrer Ecke. Mein Plan ist es, weiter an diesem Projekt mit zu arbeiten, in nächster Zeit von hier aus, nicht aktiv vor Ort. Aber in näherer Zukunft werde ich auch wieder vor Ort helfen. Es ist ein langwieriges Projekt.

Gegenwind:

Vielen Dank.

Interview: Reinhard Pohl

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