(Gegenwind 407, August 2022)

Deniz Celik

5 Jahre nach G20 in Hamburg:

„Die Hamburger Linie wird bleiben“

Interview mit Deniz Celik, innenpolitischer Sprecher der Fraktion „Die Linke“ in der Hamburgischen Bürgerschaft zum Stand der Prozesse fünf Jahre nach dem G20-Gipfel im Juli 2017 in Hamburg.

Gegenwind:

Wie viele Verurteilungen gab es im Zusammenhang mit den G20-Protesten?

Deniz Celik:

Die Zählung ist nicht ganz einfach, je nachdem was man alles dazu zählt. Insgesamt gab es um die 300 Anklagen, hinzu kommen über 150 Strafbefehle. 10 Personen sind zu Freiheitsstrafen ohne Bewährung verurteilt worden, 151 Personen zu Freiheitsstrafen mit Bewährung und 84 Personen zu Geldstrafen. Insgesamt sind es also etwa 400 Verurteilungen.

Gegenwind:

Und Freisprüche?

Deniz Celik:

Es gab 21 Freisprüche, es gab aber auch über 400 Einstellungen nach Paragraf 170 Absatz 2 Strafprozessordnung, also weil es keine überwiegende Verurteilungswahrscheinlichkeit gab und weitere etwa 50 Einstellungen wegen Geringfügigkeit nach der Strafprozessordnung. Es ist also keineswegs so, dass der Ermittlungs- und Repressionseifer begründet gewesen wäre.

Gegenwind:

Aber es laufen ja noch Gerichtsverfahren?

Deniz Celik:

Die Corona-Pandemie hat auch die Strafverfahren wegen des G20-Gipfels ausgebremst. Das im Dezember 2019 begonnene Strafverfahren gegen Jugendliche im sogenannten Rondenbarg-Komplex wurde deswegen auch unterbrochen und bisher nicht wieder aufgenommen. Derzeit sind 29 Verfahren am Amtsgericht anhängig, von denen 14 bereits terminiert sind, und am Landgericht sind 11 Verfahren anhängig, davon sind neun erstinstanzliche Verfahren.

Gegenwind:

Und wie viele Ermittlungsverfahren laufen noch?

Deniz Celik:

Angeblich sind nur noch fünf Ermittlungsverfahren gegen 12 bekannte Beschuldigte und 12 Verfahren gegen Unbekannt - plus die Verfahren, die bereits bei Gericht anhängig sind.

Gegenwind:

Aus den Crime-Dateien der Sonderkommission „Schwarzer Block“ wären aber noch etliche Ermittlungsverfahren mehr möglich?

Deniz Celik:

Ja, nach dem letzten Stand sind dort noch 766 Beschuldigte plus 935 Beschuldigte aus der Bildauswertung gespeichert. Daraus können sich auch noch weitere Verfahren ergeben. Genauso drohen grundsätzlich auch Strukturermittlungsverfahren.

Gegenwind:

Ist auf die Bedenken des Hamburger Datenschutzbeauftragten wegen der Gesichtserkennungssoftware Videmo, der Auswertung von Bahnhofskameras und der Öffentlichkeitsfahndungen Rücksicht genommen worden in den fünf Jahren?

Deniz Celik:

Nein, innerhalb des G20-Komplexes ist die Technik umfangreich zum Einsatz gekommen. Auch wenn die Gesichtserkennungssoftware bisher unseres Wissens nicht in anderen Verfahren zum Einsatz gekommen ist, ist es vermutlich nur eine Frage der Zeit, bis dies geschehen wird.

Gegenwind:

Dann hat die G20-Fahndung das Ausmaß an Polizeikompetenzen dauerhaft erweitert?

Deniz Celik:

Die rechtlichen Bedingungen von Fahndungen haben sich nicht verändert, die G20-Fahndungen haben aber dazu beigetragen, dass es eine gewisse Normalisierung gegeben hat. Auch die europaweite Zusammenarbeit und die europaweiten Fahndungen haben sicherlich neue Maßstäbe für die internationale Polizeizusammenarbeit gesetzt.

Schlagabtausch zu G20

Am 14. Juni erhielt die Fraktion Die Linke in der Hamburgischen Bürgerschaft vom rotgrünen Hamburger Senat die Antworten auf ihre Große Anfrage „Betr.: Verfahren gegen Polizeibedienstete und Aktivist*innen im Rahmen des G20-Gipfels und der Gipfelproteste und rechtliche Aufarbeitung des G20-Gipfels“. Die Fraktion Die Linke nahm die Zahlen aus der Anfrage, die der innenpolitische Sprecher der Linksfraktion, Deniz Celik, im Interview darlegt, zum Anlass, eine Debatte dazu in der Bürgerschaftssitzung vom 29. Juni zu beantragen. Die Debatte geriet zum Schlagabtausch zwischen dem Abgeordneten der Linken und dem Innensenator der SPD.

In seiner Rede kritisierte Deniz Celik, die juristisch ungleiche Behandlung von Protestierenden und Polizist*innen beklagt. Polizei und Justiz hätten wohl die Ansage des damaligen Bürgermeisters und heutigen Bundeskanzlers Olaf Scholz, SPD, dass es beim G20-Gipfel keine Polizeigewalt gegeben habe, als Auftrag verstanden. Er berief sich in seiner Kritik auf die offiziellen Zahlen, welche der Senat in der Großen Anfrage nannte. Hamburgs Innensenator Andy Grote, SPD, der auch schon 2017 im Amt war und das Vorgehen der Polizei damals deckte, wehrte die Kritik in Bausch und Bogen ab: „Man kann nicht das rechtsstaatliche Verfahren diskreditieren, weil einem das Ergebnis politisch nicht passt.“ Denn: „Der Rechtsstaat hat sehr klar und erfolgreich reagiert, das war wichtig und hat auch Wirkung gezeigt,“ so Andy Grote.

Die rechte Opposition im Hamburger Landesparlament übte in der Abwehr der Kritik der Linken den Schulterschluss mit dem rotgrünen Senat. Der CDU-Innenexperte Dennis Gladiator erklärte, es habe keine systematische Polizeigewalt gegeben: „Organisierte Linksterroristen“, wie er die ungehorsamen oder militanten Protestierenden zum wiederholten Male diffamiert hat, seien nicht Opfer, sondern Täter beim G20-Gipfel gewesen. Aber wie der Fraktionschef der Hamburger AfD, Dirk Nockemann, forderte Dennis Gladiator trotzdem den Rücktritt des Innensenators, da er „politisch versagt“ habe - er hätte die Polizei wohl noch stärker unterstützen sollen. Etwas unfair, hat der SPD-Innensenator doch den Eskalationskurs der Polizeiführung ohne Kritik unterstützt.

Gaston Kirsche

Gegenwind:

Gegen Polizeigewalt wurde kaum ermittelt - wie ist der Stand bei den Anklagen?

Deniz Celik:

Insgesamt gab es 169 Verfahren gegen Polizist*innen, davon 133 wegen Körperverletzung im Amt. Mittlerweile sind 145 Verfahren eingestellt. Es gab keine einzige Anklage! Es gab lediglich einen Strafbefehl, gegen einen Polizisten, der in der damaligen Gefangenensammelstelle einen anderen Polizisten leicht am Finger verletzt haben soll. Das Verfahren wurde aber Verlauf des Verfahrens wegen Geringfügigkeit eingestellt.

Gegenwind:

Gibt es im Rückblick Zahlen, wie viele Protestierende bei den Gipfelprotesten von der Polizei verletzt oder traumatisiert wurden?

Deniz Celik:

Es gibt leider nur Schätzungen, da viele Aktivist*innen aus Angst vor der Weitergabe ihrer Daten an die Polizei eine Versorgung im Krankenhaus oder bei niedergelassenen Ärzt*innen nicht in Anspruch genommen haben oder dort nicht angegeben haben, dass ihre Verletzungen im Zusammenhang mit dem Gipfelprotesten stehen. Zum Glück gab es Demosanitäter*innen, die verletzen Aktivist*innen behandelt haben. Die offiziellen Zahlen sind daher unzureichend und es gibt ein großes Dunkelfeld. Bei den Verfahren gegen Polizeikräfte wegen Körperverletzung im Amt gibt es bei 49 Verfahren Erkenntnisse zu physischen Verletzungen, davon in sieben Fällen Knochenbrüche. Von den 49 Verfahren ist bei 21 Verfahren bekannt, dass die Geschädigten ambulant und in zwei Fällen stationär im Krankenhaus versorgt wurden. Über psychische Beeinträchtigungen ist dem Senat nichts bekannt.

Gegenwind:

Was wäre zum Eindämmen der Polizeigewalt bei zukünftigen Großereignissen in Hamburg nötig?

Deniz Celik:

Um derartige Gewalteskalationen der Polizei zukünftig zu vermeiden, bräuchte es dazu zuallererst den politischen Willen zu einer Veränderung. Dieser ist aber weder in der Polizei noch beim Senat vorhanden. Fehlerkultur und Deeskalation sind Fremdwörter, stattdessen regiert die harte Hamburger Linie, die auf Machtdemonstration durch Stärke und Dominanz setzt. Auch die Aufklärung von Polizeigewalt ist dringend reformbedürftig. Die Polizei ist von einem Korpsgeist geprägt - es ist nicht verwunderlich, dass Polizeigewalt nicht aufgeklärt wird, wenn Kolleg*innen gegen Kolleg*innen ermitteln. Wir fordern seit Jahren eine unabhängige Polizeibeschwerde, die außerhalb des Polizeiapparates steht und eigene Ermittlungsbefugnisse hat. Die Anklagequote bei Polizeigewalt ist auch in Hamburg bei unter einem Prozent. Solange Polizist*innen sich darauf verlassen können, dass ihre Straftaten folgenlos bleiben, werden wir Polizeigewalt nicht eindämmen können.

Gegenwind:

Der Gesamteinsatzleiter des G20-Gipfels, Hartmut Dudde, ging im Juni befördert in Pension. Erwartet ihr einen Kurswechsel in der Hamburger Polizeiführung hin zu Deeskalation und Dialogbereitschaft?

Deniz Celik:

Auch ohne den Polizeidirektor Hartmut Dudde wird die Hamburger Linie bleiben. Dudde war einer der Repräsentanten der Hamburger Linie, sie ist aber fest im gesamten Polizeiapparat verankert. Einen echten Kulturwechsel hin zu einer kooperativen, deeskalativen, grundrechts-orientierten Polizeipraxis bedürfte eines politischen Willens, der weder in der Polizei selbst noch in der Senatspolitik vorhanden ist.

Gegenwind:

Der rotgrüne Senat deckt den Eskalationskurs der Hamburger Polizeiführung?

Deniz Celik:

Der rotgrüne Senat und allen voran der Innensenator Andy Grote trägt die Hamburger Linie vollumfänglich mit. Es gab keinerlei Ambitionen, die repressive und eskalierende Linie der Hamburger Polizei einzudämmen. Im Gegenteil: Stattdessen wurden polizeiliche Kompetenzen erweitert und die Polizei gegen jede Kritik erbittert verteidigt. Auf diese Weise verhindert der rotgrüne Senat jede Korrektur der fehlgeleiteten Polizeikultur.

Gegenwind:

Vielen Dank!

Interview: Gaston Kirsche

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