(Gegenwind 411, Dezember 2022)

Stop War Help Ukraine

Wie weiter in der Ukraine?

Vorschläge der Putin-Versteher untauglich

Im Gegenwind sind von verschiedener Seite Artikel platziert worden, in denen „Lösungen“ für Russland Krieg gegen die Ukraine angeboten wurde. Es ging um die Beitritte osteuropäischer Staaten zur NATO oder auch einen „Minderheitenschutz“ für die russisch-sprachige Bevölkerung der Ukraine. Diese Vorschläge taugen nichts, weil sie keine der Ursachen des Krieges auch nur von Ferne berühren.

Ursachen des Krieges

Nach der Auflösung der Sowjetunion ging der russische Präsident Jelzin davon aus, er könnte den sowjetischen Präsidenten Gorbatschow beerben und mit der „Gemeinschaft unabhängiger Staaten“ eine Art Nachfolgestaat schaffen.

Er irrte.

Die zentralasiatischen Republiken verbündeten sich und setzten durch, dass der Sitz der GUS nicht Moskau, sondern Minsk wurde. Die baltischen Staaten machten nicht mit, sondern orientierten sich zur EU und zu NATO. Sie wollten möglichst schnell den Schutz haben, weil sie fürchtete, Russland wollte sie mit Gewalt zurückholen.

In der Folge brachen sowieso weite Teile der Wirtschaft und Gesellschaft von Russland zusammen, weil Jelzin völlig planlos den Kapitalismus einführte. Die staatlichen Betriebe wurde per „Anteilsschein“ an die Belegschaften gegeben, und ein paar findige Neureiche sammelten sie für kleines Geld ein und wurden fast über Nacht zu Milliardären. Tschetschenien spaltete sich ab, Russland verlor 1996 den Krieg und musste die Unabhängigkeit Tschetscheniens tolerieren, allerdings ohne sie anzuerkennen. Bereits 1992 bis 1994 hatte Aserbaidschan einen Krieg gegen Armenien geführt, um sich Karabach einzuverleiben, und verlor.

Es klappte also nicht, für die untergegangene Union einen neuen Staatenbund als Ersatz zu schaffen.

Russland und NATO

Die NATO verhandelte trotz der offensichtlichen Schwäche weiter mit Russland. Als Kasachstan und Ukraine ihre „geerbten“ Atomwaffen aufgeben wollten, plädierten die USA und Großbritannien dafür, beide sollte sie an Russland abgeben. Kasachstan stimmte zu, die Ukraine nicht: Sie wollte einen Ersatz, eine Garantie für die Grenzen.

So kam es 1994 zum „Budapester Memorandum“: Die Ukraine stimmte zu, die Atomwaffen komplett abzugeben, das geschah bis 1996. Im Gegenzug garantierten Russland, Großbritannien und die USA die Grenzen, sie übernahmen die Garantie, der Ukraine im Falle eines Angriffs beizustehen. So hatte die Ukraine den Schutz der NATO gegen Russland und den Schutz Russlands gegen die NATO.

Im Zuge dieser Verhandlung kam auch die NATO-Russland-Akte 1997 zustande: Beide Seiten eröffneten Botschaften am Hauptquartier, Russland in Brüssel, informierten sich gegenseitig über Manöver und ließen Beobachter zu. Sie vereinbarten gleichzeitig, dass alle Länder „dazwischen“ selbst entscheiden dürften, mit wem sie zusammenarbeiten oder welchem Bündnis sie beitreten wollten.

Russland bildete in der Folge eine Wirtschafts- und Verteidigungsunion mit Belarus, die später in einen gemeinsamen Staat münden sollte. Dagegen gibt es heute in Belarus starke Vorbehalte in der Bevölkerung und beim Präsidenten, der 1997 aber gerade in seiner ersten Amtszeit war. Der Präsident muss heute immer mehr russischen Forderungen nachgeben, weil er seit den Protesten 2020 von russischer Unterstützung abhängig ist.

Daraus entstand 2002 das Militärbündnis unter Führung Russlands, dem außer Belarus auch Armenien, Kasachstan, Kirgisien und Tadschikistan beitragen. Dagegen entscheiden sich fast alle osteuropäischen Länder für den Aufnahmeantrag bei der NATO.

Das russische Militärbündnis OVKS hat 2022 bei seiner ersten Prüfung versagt: Im September 2022 griff Aserbaidschan Armenien an. Armenien rief den Verteidigungsfall für das Militärbündnis aus, aber dort reagierte niemand - obwohl Russland in Armenien Truppen stationiert hat. Grund dafür war vermutlich der Ukraine-Krieg mit den starten russischen Verlusten. Der Krieg wurde auf Druck der USA und der EU von Aserbaidschan wieder beendet, vermutlich war es nur ein Test für Russlands Militärbündnis.

Die osteuropäischen Staaten traten 1999 und 2004 der NATO bei, mit der Zustimmung Russlands - 1999 unter Jelzin, 2004 unter Putin. Grund war die Bedrohung durch Russland. Das war zunächst eine abstrakte Bedrohung, weil in Russland die Wirtschaft stark einbrach, Millionen von Russinnen und Russen das Land verließen und Jelzin ein zunehmend autoritäres Präsidial-Regime einführte. Unter Putin wurde es auch konkret, die osteuropäischen Staaten fühlten sich in ihrer Bündniswahl bestärkt, das zeigen auch Umfragen in der Bevölkerung der jeweiligen Länder. Die Aufnahme der Länder in die NATO bedroht auch niemanden.

Russland und die Ukraine

Die Ukraine führt ihre Geschichte auf Kiew und das Reich der Waräger, also Wikinger, im 9. Jahrhundert zurück. Das ist soweit richtig, als damals eine Art staatliche Ordnung entstand. Das Reich der „Kiewer Rus“ schloss später auch Minsk und Moskau mit ein.

Aber diese ganze Ordnung wurde im Mongolensturm zerstört.

Später entstanden auf dem Gebiet der heutigen Ukraine mehrere Hetmanate, also Herrschaftsgebiete von Kosaken. Auch wenn die Ukraine ihre Geschichte auf diese Hetmanate zurückführt, die auch 1917 wieder entstanden - Kosaken waren wie die Waräger an keine bestimmte Abstammung gebunden, sondern waren Kriegergemeinschaften. Die Mitglieder konnten aus der örtlichen Bevölkerung kommen, aber auch von weither eingewandert sein. Wichtiger ist sicherlich der kulturelle Zusammenhang: Die Hetmanate gehörten mehr oder weniger zum Herrschaftsbereich von Polen-Litauen, später bildeten Polen und die Ukraine auch einen Staat.

Russland entstand aus dem Großfürstentum Moskau. Es unterstand in den ersten Jahrzehnten seiner Existenz der „Goldenen Horde“, war den Tataren tributpflichtig und musste auch Soldaten für die Kriege stellen. Aber der Großfürst konnte durchsetzen, für die Tataren die Steuern auch von den anderen slavischen Herrschern einzutreiben.

Letztlich konnten die Großfürsten sich von der Oberherrschaft der Tataren befreien, der Großfürst wurde zum Zar, und seit 1721 existiert Russland als eine europäische Großmacht.

Die ukrainischen Fürsten hatten 1648 einen Aufstand gegen Polen begonnen, dazu auch den damaligen Zaren um Unterstützung gebeten. Der Zar sagte diese Unterstützung 1654 zu. In der ukrainischen Geschichtsschreibung hat sich die Ukraine damals dem Zaren unterstellt, ihn als Herrscher akzeptiert, blieb aber unabhängig. In der russischen Geschichtsschreibung hat die Ukraine damals ihre Unabhängigkeit aufgegeben und sich Russland unterstellt. Offiziell annektiert wurde die Ukraine aber erst 1773 von Zarin Katharina II.

So blieb die Ukraine Teil des Russischen Reiches bis 1917. Mit dem Zusammenbruch des Zarenreiches erklärte sich die Ukraine für unabhängig, allerdings gab es drei Machtzentren in Charkiv, Kiew und Lemberg. Am Ende des Bürgerkrieges stand 1922 der Beitritt zur Sowjetunion, die Führung in Charkiv setzte sich durch, die Ukraine trat aber als eigenständige Sowjetrepublik der UdSSR bei, nicht mehr als annektierter Teil Russlands. Später wurde diese Position bestätigt, indem die Ukraine neben der Sowjetunion einen Sitz in der UNO bekam.

Das war dann auch die Grundlage für die 15 Unabhängigkeitserklärungen der ehemaligen Sowjetrepubliken 1991 und 1992, wobei die drei baltischen Republiken sich natürlich nicht als ehemalige Sowjetrepubliken sehen, sondern als von der Sowjetunion besetzte Länder.

Putins Machtanspruch

Putin bestreitet der Ukraine die Existenz. Die Ukrainische Sowjetrepublik von 1922 nennt er eine „Erfindung Lenins“, die Ukraine von 1992 ist angeblich von den USA gegründet worden.

Die beiden Angriffe von 2014, erst gegen die Krim, dann gegen die Ostukraine sollten das Land destabilisieren, was auch teilweise gelang. Die beiden Minsker Abkommen verhalfen den russischen Truppen zu einer Waffenruhe, allerdings sorgte Putin dafür, dass sie nie angewendet wurde. Die ersten Schritte wären der Abzug der russischen Truppen gewesen, der Ukraine sollte die volle Kontrolle über die Grenze zurückgegeben werden, dann sollten die Flüchtlinge zurückkehren und gemeinsam mit den dort Gebliebenen über einen Autonomiestatus abstimmen. Das hat Putin von Anfang an verhindert.

Die beiden Angriffe waren lediglich die Vorbereitung des Angriffs von 2022. Der war vielleicht schon für den Sommer 2021 geplant, doch unter dem Druck der westlichen Regierungen wurden die „Manövertruppen“ in Belarus doch reduziert. Erst nach dem Abzug der NATO-Truppen aus Kabul im August 2021, der sehr chaotisch verlief, verstärkte er die Truppen wieder und befahl den Angriff.

Das Ziel war die Zerstörung der Ukraine und der Anschluss an Russland. Offensichtlich hatte Putin mit einem schnellen Erfolg gerechnet - gefangene Soldaten hatte nur Essen für drei Tage mit bekommen, Offiziere hatten ihre Paradeuniformen für die geplante Siegesfeier in Kiew dabei, aber auch die Angriffspläne gegen die Republik Moldau, geplant für den 15. März 2022.

In Moldau hatten russischen Soldaten die Abspaltung des Landesteils Transnistrien unterstützt. Moldau schloss mit Russland ein Abkommen, dass es die Neutralität in der Verfassung verankert, also nicht der NATO beitritt. Putin sagte im Gegenzug den Abzug der russischen Truppen zu. Die Neutralität ist seit mehr als 15 Jahren in der Verfassung, auf den Rückzug der russischen Truppen warten wir bis heute. Auch dadurch ist die ukrainische Regierung gewarnt, die Forderung nach „Neutralität“ gehört zu Putins Angriffsvorbereitungen.

Ansonsten hat Putin sich komplett verschätzt, weil die Ukraine sich wehrt - Armee und Bevölkerung. In den besetzten Gebieten der Ostukraine wurden bereits elf von Russland eingesetzte Verwaltungschefs getötet, und einige Gebiete werden inzwischen von Partisanen beherrscht, dass die Besatzungstruppen nur noch in gepanzerten Fahrzeugen durchfahren können.

Bedrohung durch NATO?

Es gibt immer wieder die Erzählung, seit 2007 oder 2008 auch von Putin in Umlauf gebracht, die NATO wäre eine Bedrohung für Russland, auch durch den (von Russland abgesegneten) Beitritt einiger osteuropäischer Länder. Das ist eine schöne Geschichte, nur Putin glaubt nicht daran.

Ein Zeichen dafür ist der Einsatz des 11. Armeekorps im Ukraine-Krieg. Die 12.000 Soldaten mit ungefähr 100 T-72-Panzern waren in der Region Charkiv und Donezk eingesetzt. Es wurde von der ukrainischen Armee mit zielsicherer Artillerie schwer getroffen, verlor fast alle Fahrzeuge und den größten Teil seiner Soldaten. Die einzelnen Abteilungen verloren 30 bis 90 Prozent der Soldaten, insgesamt starten rund 6.000 der 12.000 Soldaten.

Es ist nicht irgendeine Einheit: Es ist das Korps der russischen Armee, das für den Schutz von Kaliningrad zuständig ist. Die Einheit wurde dort komplett abgezogen und der Vernichtung preisgegeben, einfach verheizt. Das heißt: Putin weiß genau, dass die NATO, namentlich Polen und Litauen, niemand bedrohen. Denn dann wäre die Insellage des russischen Gebiets Kaliningrad extrem gefährlich - selbst bei einem geringen Anzeigen einer Bedrohung würden die Truppen verstärkt, nicht komplett abgezogen.

Übrigens sind auch die russischen Truppen an der finnischen Grenze zu rund 80 Prozent abgezogen und in die Ukraine geschickt worden. Russland kann seine hohen Verluste nicht anders ausgleichen, es muss die Grenzen zur NATO komplett entblößen.

Bedrohte Minderheit?

In der Ukraine leben mehrere Minderheiten. Die Bevölkerung spricht Russisch und Ukrainisch, jeweils ungefähr zur Hälfte. Der Präsident kommt aus der jüdischen Minderheit und ist natürlich russisch-sprachig.

Die von Putin im Februar 2022 entdeckte Bedrohung der „russischen Minderheit“ durch eine „faschistische Regierung“ in Kiew ist lächerlich. Die russische Besatzungsmacht der Ostukraine, insgesamt 26.000 Soldaten, berichtete schon 2014, sie benötigten Verstärkung aufgrund der Feindseligkeit der einheimischen Bevölkerung. Die Menschen dort werden von der Besatzungsmacht traktiert, nicht von eingebildeten „Nationalsozialisten in Kiew“, die dort, selbst wenn sie dort rumlaufen, nichts zu sagen haben.

Die von Sieglinde und Ralf Cüppers im Gegenwind 410 vorgeschlagene Autonomieregelung für „russisch-sprachige“ Gebiete der Ukraine klingt gut, hat aber nichts mit Putins Krieg zu tun und könnte ihn auch nicht beeinflussen. In den russischen besetzten Gebieten werden alle Meinungsäußerungen der Bevölkerung brutal unterdrückt, eine Abstimmung ist unmöglich und würde von Russland natürlich mit allen Mitteln verhindert. Wenn es gelingt, die russischen Truppen zu vertreiben, wären solche Abstimmung in der gesamten Ukraine möglich.

Allerdings hat Russland seit Ostern 2022 massiv die eigene Artillerie verstärkt und zeitweise über 60.000 Granaten täglich auf den Donbass abgeschossen, vermutlich rund 40.000 Zivilist:innen dort getötet - einzelne Schätzungen liegen bei über 100.000 ermordeter Zivilist:innen. Das sind genau die Angehörigen der „russischen Minderheit“, die Putin uns ans Herz legen will, während er seine Vernichtungsbefehle gibt.

Da die russisch-sprachigen Bevölkerung die Hälfte der Menschen in der Ukraine ausmacht, der Präsident gehört bekanntlich dazu, wäre eine Autonomie nach Sprache unsinnig. Der größte Teil der Bevölkerung nutzt beide Sprachen, gleichzeitig und durcheinander. Das Problem des Donbass ist die schleichende Deindustrialisierung dadurch, dass die „alte Wirtschaft“ (Kohle und Stahl) nicht mehr konkurrenzfähig ist und die Arbeitslosigkeit in den letzten 30 Jahren laufend zugenommen hat. Da ist eine Lösung gefragt, die aber auch erst nach Ende des Kriegs angepackt werden kann.

Übrigens hatte die Krim bis 2014 einen autonomen Status, den Sieglinde und Ralf Cüppers in ihrer Übersicht positiver Beispiele hätten aufführen können. Der wurde von der russischen Besatzungsmacht aufgehoben.

Welche Lösung?

Verhandlungen

Alle Kriege enden mit Verhandlungen. Das wird auch hier versucht: Präsident Macron (Frankreich) und Bundeskanzler Scholz (Deutschland) telefonieren immer mal wieder mit Putin, um auszuloten, ob es Möglichkeiten gibt. Putin lehnt bisher kategorisch ab. Der Sicherheitsberater des US-Präsidenten spricht seit November mit dem Sicherheitsberater von Putin, auch hier ist das bisherige Ergebnis, dass Putin Verhandlungen mit der Ukraine kategorisch ablehnt.

Auch die Ukraine lehnt Verhandlungen mit Putin ab, nicht aber mit Russland. Allerdings macht man zur Voraussetzung, dass die russischen Soldaten die Ukraine verlassen. Das ist nachvollziehbar, aber taktisch nicht sonderlich geschickt.

Verhandlungen werden aber tatsächlich dadurch erschwert, dass Putin Vereinbarungen grundsätzlich nicht einhält. Das war mit den beiden Minsker Abkommen so, das war auch bei dem vereinbarten Truppenabzug aus Moldau so. Insofern müsste jede Vereinbarung abgesichert werden. Fraglich ist, ob die Bundeswehr 100.000 Soldaten in der Ukraine stationieren will, um Putins Zusagen zu überwachen und notfalls die Einhaltung durchzusetzen.

Waffenstillstand

Beide Seiten sehen einen Waffenstillstand als Pause, in der die weiteren Schritte des Krieges vorbereitet werden. Russland will die Reservisten, soweit sie einberufen werden konnten, auszurüsten und auszubilden. Die Duma hat die Grundausbildung auf eine Woche verkürzt. Putin hat darüber hinaus am 10. November angeordnet, dass die spurlos verschwundenen 1,2 Millionen Erstausstattungen für Soldaten (Uniform, Waffe, Rucksack, Schlafsack, Schutzweste) gesucht werden sollen, damit wurde die Antikorruptionsbehörde beauftragt. Vorläufig müssen die Soldaten ohne Grundausrüstung an die Front.

Die Ukraine erwartet wichtige Lieferungen moderner Waffen aus Griechenland, Italien und Slowenien und könnte einen Waffenstillstand nutzen, um sie an der Front zu stationieren. Die Ukraine befürchtet allerdings, dass der momentane Vormarsch und der russische Rückzug, der teils den Charakter einer Flucht annimmt, dadurch zum Stehen kommt und Russland seine Stellungen wieder befestigen kann.

Russland unterhält in den besetzten Gebieten auch mehr als 20 Lager, in denen Gefangene gefoltert und teils hingerichtet werden. Ein Waffenstillstand würde es erlauben, diese Lager weiter zu betreiben und mehr Menschen aus den besetzten Gebiete zu töten. Andere Gefangene werden nach Russland deportiert, außerdem werden Kinder ihren Eltern weggenommen und in Russland zur Adoption freigegeben. Diese Praktiken würden durch einen Waffenstillstand erleichtert, darauf sollten insbesondere diejenigen eingehen, die einen Waffenstillstand fordern.

Alles besser als Krieg?

Hätte die Ukraine sich gegen den Angriff nicht gewehrt, wären jetzt Hunderttausende Zivilistinnen und Zivilisten tot. Man muss nur hochrechnen, was in den vergleichsweise wenigen besetzten Orten angerichtet wurde, die ja teils nur fünf oder sechs Wochen besetzt waren - überall finden die ukrainischen Behörden Massengräber und improvisierte Gefängnisse und Folterkammern.

Putin hat angekündigt, die Ukraine auszulöschen. Zunächst meinte er damit, den Staat zu beseitigen und das Gebiet mit allen 44 Millionen Menschen zu annektieren. Aufgrund des Widerstandes der Ukrainerinnen und Ukrainer musste er dieses Ziel aufgeben. Aber jetzt will er die Ukrainerinnen und Ukrainer bestrafen - es werden Kraftwerke, Wasserwerke, Schulen und Krankenhäuser angegriffen und zerstört.

Ohne den Widerstand wäre seit April ein weiterer Krieg gegen Moldau in Gang. Das konnte die Ukraine durch ihren Widerstand verhindern. Ich vermisse bei den Kriegsgegnern, dass sie diese Verhinderung eines neues Krieges entsprechend würdigen.

Wer gegen den Krieg ist, muss also zunächst Putin wirklich verstehen - nicht nur seine Propaganda, sondern seine Ideologie, seinen Vernichtungswillen, seine Herrenmenschen-Reden, seine geschichtsverfälschenden Aufsätze, aus denen er seine Kriegsphantasien herleitet, dann aber auch genau diese Vernichtungskriege startet. Wer einen Waffenstillstand oder Verhandlungen nur fordert, aber nicht annähernd beschreiben kann, welcher Ideologie Putin folgt, fordert ins Leere hinein.

Und das hilft niemandem, sondern verlängert den Krieg.

Klarheit nötig

Wichtig ist zu verstehen: Es handelt sich nicht um einen Kriegs Russlands gegen die Ukraine nach irgendwelchen völkischen Kriterien, auch wenn Putin das in seinen Reden immer wieder betont. Russland ist eine Diktatur. Dagegen ist die Ukraine eine Demokratie, seit der Unabhängigkeit 1992 gab es bereits sechs Regierungswechsel durch Wahlen.

Russland spricht zwar manchmal davon, Regierungswechsel wären durch US-Einfluss oder durch „Putsch“ zustande gekommen, beides ist erfunden. Zweimal wurden Regierungswechsel durch Massenproteste begleitet. Diese erzwangen 2005 eine Wiederholung des zweiten Wahlgangs der Präsidentschaftswahlen, 2014 den Rücktritt oder Amtsenthebung eines Präsidenten, allerdings durch einen Parlamentsbeschluss, einen Interimspräsidenten und Neuwahlen, wie die Verfassung es vorsah.

Das ist der wahre Grund für Putin: Demokratie und demokratischer Regierungswechsel im zweitgrößten Land der Sowjetunion mit vielen russisch-sprachigen Medien sieht er als Gefahr nicht für Russland, sondern für seine persönliche Macht. Er hat die russische Verfassung so verbogen, dass er nicht zwei, sondern sechs Amtszeiten Präsident sein darf. Das kann mit Fug und Recht „Putsch“ genannt werden.

Für die Ukraine geht es darum, die eigene Demokratie zu bewahren. Und auch, wenn diese Demokratie Mängel hat, die einen EU-Beitritt behindern: Es ist eine Demokratie, und die Menschen dort wollen unabhängig von ihrer Muttersprache nicht in einer von Putin geführten Diktatur leben. Wer diesen wichtigsten Punkt bei Beiträgen zur Lösung außer Acht lässt, wird mit allen Vorschlägen zur Konfliktbeilegung scheitern.

Reinhard Pohl
Diskussionsbeiträge dazu: redaktion@gegenwind.info

Zur Startseite Hinweise zu Haftung, Urheberrecht und Datenschutz Kontakt/Impressum