(Gegenwind 413, Februar 2023)

Mit Vollgas in die Klimakatastrophe - Jetzt umsteuern
Foto: Pay Numrich

Keine Straftat zu finden?

Nötigung geht immer...

November 2020: Außergewöhnliche Stille liegt über der A7 nahe Schleswig. Bis zum Horizont sind keine Autos mehr zu sehen. Im morgendlichen Licht der Wintersonne seilen sich vier Aktivisti mit zwei Transparenten ab, wütend über die Räumung des Dannenröder Walds, große Teile dessen einer neuen Autobahn weichen sollen. In Deutschland finden am selben Tag sieben Abseilaktionen über Autobahnen statt. Es ergibt sich ein staureicher Tag unter vielen. Anfang Januar 2023 werden deswegen vor dem Amtsgericht in Schleswig mit zwei Jahren Verzögerung vier Personen wegen Nötigung zu 60 Tagessätzen verurteilt - als nötigendes Tatwerkzeug muss die Polizei herhalten.

Der Prozess fällt in eine Zeit aufgeheizter gesellschaftlichen Stimmung, in der, begleitet von medialer Agitation, die Kriminalisierung von Klimaprotest erschreckend zunimmt. Dabei ist die Rechtslage zu Abseilaktionen von Autobahnbrücken unklar: In einigen Fällen wurden ähnliche Aktionen im Vorfeld von den Behörden als Versammlung genehmigt. In einem anderen Fall erkannte die zuständige Staatsanwaltschaft auch in unangemeldeten Aktionen keinen Straftatbestand. Doch anderswo variieren die Vorwürfe: Sie reichen von „Hausfriedensbruch“ auf bekletterten Straßenschildern über „gefährlichen Eingriff in den Straßenverkehr“ bis hin zu „Nötigung durch einen Anderen“ wie in Schleswig. Nötigung durch einen anderen? Demzufolge würden die Autofahrer*innen zum Verlangsamen ihrer Fahrt genötigt, allerdings nicht durch die Aktivist*innen selbst, weil diese sich außerhalb des Verkehrsraums befanden. Mit „durch einen Anderen“ ist die Polizei gemeint, die die Straße sperrte.

16. Juni 2022: An diesem Tag werden die Strafbefehle verschickt. Das Datum markiert auch den Beginn einer Vielzahl aufeinander folgender Überflutungen in Pakistan, die noch bis zum Ende des Sommermonsuns im Oktober anhalten, mehr als 10% der Landfläche überschwemmen, über 1700 Menschen töten und als die schlimmste Flutkatastrophe des Landes in seine Geschichte eingehen sollen.

Im Schleswiger Prozess verteidigen sich die vier Angeklagten selbst mit Unterstützung von Vertrauenspersonen. Ihre Prozessführung verläuft gerichtskritisch und auch das Publikum mischt sich widerspenstig ein. Gegen das Urteil wird am Ende der drei Prozesstage Berufung eingelegt.

In diesem Prozess kommt viel zusammen: War die Abseilaktion eine Versammlung und so durch Versammlungsrecht geschützt, gab es eine Nötigung und falls ja, war diese durch einen Notstand gerechtfertigt? Die Angeklagten und Verteidiger*innen führen dies in insgesamt 50 Beweisanträgen mit vielen seriösen Quellen und Verweisen auf bestehende Gerichtsurteile aus.

Doch der Reihe nach: Im Prozessverlauf wird klargestellt, dass die Abseilaktion an einem öffentlich zugänglichen Ort stattfand und mehrere Menschen beteiligt waren, die Transparente mit inhaltlichen Botschaften zur Klimakrise und für eine Verkehrswende in Richtung der Autofahrer*innen aufspannten. Ein Polizeizeuge, der als erster am Aktionsort eintraf, berichtet auch, dass die Stimmung friedlich gewesen und von den Aktivist*innen keine Gewalt, weder gerichtet gegen die Autofahrer*innen noch die Polizei, ausgegangen sei. Nach der Argumentation der Angeklagten handelt es sich deswegen bei der Abseilaktion um eine Versammlung, die nach Art. 8 Grundgesetz unter einem besonderen Schutz stünde. Selbst wenn hier eine Nötigung gesehen werden sollte, dann wäre diese bloß eine Nebenfolge dieser Versammlung. Fast selbstverständlich ist es, dass Demos zu jeglichen Anlässen in Städten legal mit Verkehrschaos einhergehen können. Warum sollte das auf Autobahnen anders sein? „Autos sind eben heilig“, kritisiert eine der Angeklagten in ihrer Einlassung. „Heilige müssen wir von ihrem Sockel stoßen.“

5.12.2022: Während des ersten Prozesstages ist die Stadt Kinshasa den Folgen der schlimmsten, tagelang anhaltenden Starkregenfälle seit Jahren ausgesetzt. Ein massiver Erdrutsch zerstört Straßen und Häuser. Zeitgleich verursacht im Süden der USA eine Serie Tornados binnen vier Tagen schwere Schäden.

Weiterhin argumentieren die Angeklagten, dass eine Nötigung nicht gegeben sei. Anders als bei Protest durch Sitzblockaden, der oft mithilfe des Nötigungsparagraph bestraft wird, befanden sich die abgeseilten Personen außerhalb des Verkehrsraums: Sie hingen über Stand- und Mittelstreifen auf der Höhe eines zurückgesetzten Unterbaus der Brücke. Noch während einer halben Stunde floss der Verkehr unter der Abseilaktion ungestört, bis die Polizei eingriff. Es stimmt also nicht, dass wie von der Staatsanwaltschaft polemisch behauptet von den Aktivist*innen beabsichtigt „unzählige Verkehrsteilnehmer [...mit Gewalt...] am Fortkommen gehindert wurden“. Für die Aktivist*innen war nicht absehbar gewesen, ob die Polizei die Autobahn sperren würde, denn es hatte in der Vergangenheit mehrere Aktionen gegeben, bei denen dies nicht getan wurde. Eine der Angeklagten kommentiert das vor Gericht: „Wir erleben gerade eine unheimliche Ausweitung des Nötigungsparagrafen. Gewalt ist plötzlich alles: sich an die Straße kleben, sich irgendwo abseilen, ja auch nur daneben stehen ist Gewalt - einem von uns wird nämlich nichts anderes als das daneben stehen vorgeworfen. Und wenn es nun wirklich nicht passt, weil nicht mal jemand ansatzweise sowas wie im Weg gehangen hat, dann muss die Polizei herhalten. Sie wird dann zum von uns instrumentalisierten, willenlosen Werkzeug. So ein Bullshit! Ich habe noch nie erlebt, dass ein(e) Polizist*in von mir Befehle entgegengenommen oder sich hat instrumentalisieren lassen das zu machen, was ich gerade will.“

Außerdem schreibt die Staatsanwaltschaft von einer „gegen völlig unbeteiligte Verkehrsteilnehmer gerichteten Tat“. Dem entgegnen die Angeklagten, dass das Übermitteln der Botschaft mit viel Reichweite das Ziel der Aktion gewesen sei. Und davon abgesehen sei die Sachlage eindeutig: „Autofahrer*innen stehen einer Verkehrswende im Weg. Ihre Gründe mögen unterschiedlich sein, auch unterschiedlich berechtigt. Aber unbeteiligt sind sie nicht, wenn es um Autobahnausbau und Klimaschutz geht.“

14.12.2022: Während des zweiten Prozesstags verlagern sich Luftmassen aus der Arktis in die USA. Sie bringen Eiswind, Schnee und extreme Kälte. In einigen Orten fallen die Temperaturen innerhalb weniger Minuten um bis zu 20 Grad Celsius. An mehreren Orten werden Rekordwerte von bis zu minus 48 Grad Celsius gemessen.

Des Weiteren zeigen die Angeklagten die Gefahren auf, die durch Kraftfahrzeuge, ihre Straßen und den Straßenbau entstehen, um zu beweisen, dass ein rechtfertigender Notstand vorliege. Der Inhalt ihrer zahlreichen Anträge ist vielfältig. Es geht um Lärm, Luftverschmutzung und Unfälle. Es geht um die Gefahr durch CO2-Emissionen, den Dannenröder Wald und um politisches Versagen. Es geht um die historische Wirksamkeit ungehorsamer Protestaktionen und um die heutige Dringlichkeit zu handeln. Dass Klimaschutz ein nach §34 StGB notstandsfähiges Rechtsgut ist, zeigt das aktuelle Urteil des Amtsgericht Flensburg vom 7.11.2022. In diesem Fall sieht es das Gericht als gerechtfertigt an, einen Baum in einem Stadtbiotop zu besetzen, um ihn vor der Abholzung zu bewahren.

Doch hier wird von den über 70 Anträgen der Angeklagten jeder einzelne abgelehnt. Um die Anträge überhaupt zum passenden Zeitpunkt einbringen zu können, müssen die Angeklagten den Prozess immer wieder hartnäckig unterbrechen. Sich einbringen kann nur, wer die Dreistigkeit dazu mitbringt. Nebenbei bleiben nämlich die Angeklagten und auch die Zuschauer*innen deswegen vor allem eins: Immer wieder aufmüpfig. Zwei von ihnen erheben sich nicht wie vorgeschrieben zu Prozessbeginn: „Das Ritual ist eine reine Machtdemonstration. Respekt lässt sich nicht erzwingen.“ Eine Zuschauerin dagegen setzt sich nicht hin. Die Richterin wirft wahllos Personen aus dem Saal, bis eine von ihnen sich vorausschauend gleich selbst mit Konfetti verabschiedet. Schließlich verhängt die Richterin so frequent Ordnungsgelder in Höhe von mehreren hundert Euro und ersatzweise Tage in Ordnungshaft, dass der Überblick verloren geht.

Die Linie des Gerichts zeigt sich aber bereits vor Prozessbeginn durch das Polizei- und Justizaufgebot. Joachim Pohl (SHZ, 14.12.22) berichtet: „Die Zahl blauweißer Einsatzfahrzeuge am Lollfuß und neben dem Gerichtsgebäude deuten auf schwere Verbrechen und großes Kaliber hin. Doch es geht weder um Mafia-Mord oder Bandenkriminalität.“ Der Öffentlichkeit soll also der Eindruck vermittelt werden, Klimaprotest sei gefährlich, und das heißt: Alle Prozessinteressierten müssen sich einer körperlichen Durchsuchung unterziehen. Taschen und sogar Schuhe werden kontrolliert und Ausweiskopien angefertigt. Die sitzungspolizeilichen Anordnung, inklusive persönlicher Daten der Angeklagten, Adresse, Geburtsdaten, Familienstand und Beruf, hängt währenddessen für jeden einsehbar draußen im Fenster des Gerichts. Im politischen Kontexts des Strafverfahrens bedeutet das eine reale Gefahr für die Angeklagten, zuhause von Neonazis bedroht zu werden. Zu diesem Datenschutzskandal wird auch das Landgericht Flensburg kontaktiert. Dessen Antwort macht sprachlos: „Inhalt und Art der Bekanntmachung [...] unterliegt nach hiesiger Einschätzung der richterlichen Unabhängigkeit.“

Als Zeug*innen werden ausschließlich Polizist*innen vernommen. Schon bald stellt sich die Frage, warum der erste Zeuge, damalig stellvertretende Leiter des Staatsschutzes in Flensburg, geladen ist: Weder war er während der Aktion vor Ort, sodass er nach eigener Aussage die Geschehnisse „nur vom Hörensagen“ kennt, noch weiß er, worum es eigentlich geht: Um die „Klimawende gegen den Autoverkehr“? Den Hambacher Forst? Oder doch den Dannenröder? Eine weitere Polizistin des Flensburger Staatsschutz wird verhört. Das verwendete sicherheitszertifizierte Klettermaterial liegt als beschlagnahmtes Beweismittel zwar den Behörden vor, doch die Zeugin vertraut auf ihr Bauchgefühl und versichert mehrfach: „Ich ganz persönlich würde mit diesen Springseilen nicht klettern gehen.“ Dass sie das nicht vorhat, ist wohl auch besser, da sich ihre Klettererfahrung, wie sich auf Nachfrage der Verteidigung ergibt, auf den Besuch eines Hochseilklettergartens beschränkt.

5.1.2023: Am dritten Prozesstag werden entgegen der erwarteten winterlichen Kälte in Mitteleuropa Temperaturen über 20°C gemessen. Noch kein Jahr begann so warm wie 2023. Das vorherige Jahr geht als das bisher wärmste seit 1881 in die Aufzeichnungen des DWD ein.

Zum Abschluss plädiert die Verteidigung auf einen Freispruch nicht nur im Interesse der Angeklagten, sondern auch im Interesse kommender Generationen. Dass wir fähig sind, ihnen eine wunderbare Welt zu erhalten, zeige ein kleines Beispiel aus dem Gerichtssaal: „Der CO2-Melder im Raum hat uns oft genug durch nerviges Piepsen mitgeteilt, dass wir lüften sollten, was Richterin, Staatsanwaltschaft, Zuhörer*innen, Presse und Angeklagte dann auch immer ganz selbstverständlich taten. Dafür wurde sogar sofort und kommentarlos die Hauptverhandlung unterbrochen. Im Großen ist es das Gleiche: Die CO2-Melder sind hier nur keine kleinen Elektrogeräte, sondern unsere besten Wissenschaftler*innen an Hochschulen und in Forschungszentren weltweit, die seit Jahrzehnten vor dem warnen, was wir mit unserem aktuellen Kurs anrichten. Lasst uns nicht sterben, weil wir die Fenster nicht aufmachen.“

Nichts davon geht in das Urteil ein - warum nicht, bleibt unklar. Die Richterin betont stattdessen, die Abseilaktion sei „in nicht unerheblichen Maße sozialwidrig“ gewesen. Doch was bewirkt die Strafe? Dass sich über die Aktion und Repression unterhalten und damit auseinandergesetzt wird, Menschen ihre Solidarität bekunden, sich wieder politisieren, sich selbst ermächtigen und ihre Angst vor dem Gericht ablegen. Vor dem Gericht wird gepicknickt und Transparente werden aufgehangen. Eine Person ist mit einem sogenannten Gehzeug unterwegs, einem Gestell in Größe eines PKW, das an Riemen über den Schultern getragen wird und so die Absurdität des Platzverbrauchs von Autos darstellt. Die Angeklagten gehen in Berufung und sind bereit für die nächste Instanz.

Aktivisti

Wer Aktivisti finanziell unterstützen und Repressionskosten solidarisch teilen möchte, gerne an: VusEumUmseP e.V. -- IBAN: DE30 8306 5408 0004 0613 81 -- BIC: GENO DEF1 SLR -- Betreff: Antirep SH (wichtig: unbedingt mit Angabe des Betreffs!)

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